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Klassiker

Klassiker der lateinamerikanischen Musik: Marcelo Machado – „Tropicália“

Marcelo Machado – „Tropicália“

Heute stellen wir einmal kein Klassiker-Album, sondern eine Musik-Dokumentation auf DVD über den brasilianischen Musikstil Tropilcália vor:

Marcelo Machado – „Tropicália“Marcelo Machado – „Tropicália“

Mr. Bongo Films, harmonia mundi / 2014
Brasilien / Tropicália

Dass die hierzulande wohl bekanntesten brasilianischen Sänger wie Gilberto Gil und Caetano Veloso aus der Tropicália-Bewegung hervorgingen, dürfte hinreichend bekannt sein. Diese nur zwei Jahre (1968/69) dauernde kulturelle Bewegung ist bis heute die Wurzel der besonderen Kreativität brasilianischer Popmusik. Sie umfasste aber auch die Kunst-, Film-, Theater- und Literaturszene. Künstler aller Gattungen hatten damals Kontakt untereinander. So geht der Begriff Tropicália auf eine Ausstellung des Künstlers Hélio Oiticica zurück, ergab aber auch 1968 den Titel eines Albums der zu dieser Bewegung zählenden Musiker. Tropicália verband Aspekte der traditionellen Musik Brasiliens mit Einflüssen aus Amerika, Afrika und Europa. Immer wieder ist davon zu lesen, wie damals insbesondere Gil, Veloso, die Beatband Os Mutantes und Gal Costa mit schrillen Klamotten bei Liederfestivals und Musikshows im Fernsehen auftraten, dabei einerseits Begeisterung bei den von der Hippie-Welle erfassten Jugendlichen auslösten, andererseits auch von den Traditionalisten böse angefeindet wurden, die elektrifizierte Klänge als Verrat am Kulturgut ablehnten. Im nun erschienenen Dokumentarfilm Tropicália von Marcelo Machado kann man jetzt diese Momente im Original sehen. Beeindruckend ist zu sehen, wie die Gesangswettbewerbe im Brasilien der 1960er eher einem Fußballevent glichen, während zeitgleich beim deutschen Schlagerfestival im Baden-Badener Kurhaus das Publikum in feinster Abendgarderobe den Sängern höflich Applaus spendete. Man sieht im Film die psychedelischen Performances von Oiticica, aber auch Bilder von den Demonstrationen 1968 gegen die Erschießung des Studenten Edson Luis durch die Polizei, dessen Tod in Brasilien eine ähnliche Wirkung hatte wie neun Monate zuvor der Tod von Benno Ohnesorg in Berlin. Gil und Veloso reihten sich in diese Demonstrationen ein, was später mit dazu führte, dass sie ins Exil abgeschoben wurden. Allerdings galt ihre politische Botschaft nie einer bestimmten politischen Gruppe, was sich auch in Spannungen der Künstler mit der Studentenbewegung auswirkte.

Der Film selbst ist eine tropicálistische Collage, der wie ein eigenes psychedelisches Film-Kunstwerk wirkt. Faszinierend gemacht, voller wertvoller Originalaufnahmen und für die geschichtliche Erkenntnis wichtiger Aussagen der Zeitzeugen, ist er jedoch schwer zu konsumieren: Er liegt nur im portugiesischen Original mit englischen Untertiteln vor und hat ein recht schnelles Schnitttempo. Dennoch ist er für an der brasilianischen Musik Interessierte unverzichtbar, gibt er doch auch einzigartige Aussagen wieder. Manche Feststellungen werfen einen Blick auf die Empfindungen der Jugend in der Zeit der Militärdiktatur. „Im alten Griechenland, dem Ur-Land der Demokratie, gab es auch nur für zehn Prozent der Bevölkerung Demokratie. Der Rest waren Sklaven“, hört man da sagen. Musikalisch überraschen die Fernsehauftritte der Tropicálistas, die damals schon Kassettenrekorder ans Mikro hielten und selbstgebaute Echogeräte und ein Theremin einsetzten. Für Musiker, die eigentlich zwischen Folklore und Beat einzuordnen waren, erstaunlich avantgardistisch.

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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