Alle zwei Monate werden an dieser Stelle neue Alben aus der lateinamerikanischen Musikszene in unserer Serie Latin Music News (LMN) vorgestellt. Diesmal mit Musik aus Argentinien, Kuba und Brasilien.
Tango – Café De Los Maestros & Friends
(Verschiedene Künstler)
Accentus Music, harmonia mundi
Argentinien / Tango-Show (DVD)
Die Gelegenheit, die Tangoszene von Buenos Aires im Original zu erleben, hat man gemeinhin kaum. Tango-Fans dürfte die Aufzeichnung der Show „Tango – Café De Los Maestros & Friends” daher umso mehr freuen. Die DVD zeigt nicht nur eine Tango-Show mit legendären Musikern, sondern statt in Nostalgie zu schweben die Vielfalt des Tangos. Aufgezeichnet wurde sie im Ballhaus „El Palacio“ in Buenos Aires. Und hier zeigt sich: Argentinien ist zwar ein Land mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, aber an so einem Abend, da erblüht die Pracht des Landes, da putzt man sich heraus, da glänzt der Saal, das lässt man sich nicht nehmen. Außerdem dürfte es nur wenige Musikdarbietungen geben, bei denen man älteren Herrschaften noch bei wahrhaft artistischen Tanzbewegungen zusehen kann. Während sich woanders aufs Altenteil zurückgezogen wird, ist das im Tango anders. Hier zeigt man, das man es immer noch genauso gut kann: Das nicht unkomplizierte Tanzen im Tango. Und so ist es ebenso imponierend, wenn der angegraute Pianist José Colángelo z. B. bei seinem Auftritt fast in das Posing eines Rockmusikers verfällt. Organisator Gustavo Mozzi sieht im aktuellen Tango einen Austausch aller Generationen und Stilrichtungen und will dies mit der Veranstaltung auch zeigen. So ließ er altgediente Sänger wie Juan Carlos Godoy und Alberto Podestá auftreten, bei deren Gesang sogar einer jüngeren Zuschauerin die Tränen kommen. Der Tango Nuevo wird von Piazzolla-Geiger Fernando Súarez Paz vertreten, Rodolfo Mederos lässt Fans des Bandoneon mit der Zunge schnalzen, für die Begleitung sorgt das Streichorchester Orquestra Matiné und den Elektrotango vertritt die hier wohl passendste Gruppe Otros Aires. Bei deren Musik tanzen die Showpaare auch anders. Der Mann spielt den torkelnden Betrunkenen, der von der Prostituierten verführt wird, doch ein Konkurrent mit einer Mischung aus Tangotanz und Breakdance wartet schon um die Ecke. Die DVD zeigt, der Tango erlebt derzeit eine neue Hochkonjunktur.
Eliel Lazo & The Cuban Funk Machine
Stunt Records, New Arts International
Kuba / Jazz Funk
Die Latin Jazz-Szene, insbesondere die kubanisch verwurzelte, hat sich in letzter Zeit vorwiegend in Richtung anspruchsvoller Projekte entwickelt, wofür z. B. die Alben von Chucho Valdés stehen. Das war nicht immer so. Irakere, die frühere Band von Valdés, experimentierte in den Siebzigern durchaus auch mit Disco und Los Van Van war die erste kubanische Gruppe mit Synthesizer. Beide Bands sind Inspirationsquellen für den kubanischen Congaspieler Eliel Lazo und hatten auch eine Funk-Phase, auf die sich Lazo bewusst bezieht. Was das heißt, merkt man schon im Opener. Hier schaffen Eliel Lazo & The Cuban Funk Machine den Spagat zwischen komplexen kubanischen Rhythmen und straightem Funk-Beat in einer gekonnt abgestimmten Polyrhythmik sowie Jazzimprovisationen. Und damit gelingt Lazo ein Album, das aufhorchen lässt, das voller Spielfreude ist und in seinem Ansatz weit aus dem Üblichen herausragt. Diese Musik wäre gut auf Festivals vorstellbar, sie ist tanzbar und bringt für zu spät Geborene einen stilistischen Ansatz zum Hören, der sich auf eine der wagemutigsten Zeiten der kubanischen Musik bezieht. Einerseits macht Lazo auch Rückgriffe in die traditionelle kubanische Musik, baut dann aber geschickt aus einem Santeria-Rhythmus ein Jazzstück auf. Andererseits klingen viele Vorbilder der Fusionmusik an: Mal erinnert der Bläsersatz an die Crusaders, die Hammondorgel an Brian Auger und Gitarrist Mikkel Nordsø setzt auch mal einen Ringmodulator ein, eine Reminiszenz an die Headhunters, einem weiteren ausdrücklichen Vorbild Lazos. Die Cuban Funk Machine ist eine kubanisch-dänisch gemixte Band, da Lazo in Dänemark lebt. Zu ihr stieß noch der bekannte Tenorsaxophonist Bob Mintzer. Alles in allem eine aufregende Scheibe.
Yilian Canizares – Invocación
naïve, Indigo
Kuba / Jazz
Wer heutzutage aus der Wahrnehmung regionaler Stilistik herausragen will, tendiert zunehmend zum stilistischen Crossover. Doch ist dies kein allmächtiges Zauberwort, es gehört mehr dazu. Die Musik der Kubanerin Yilian Canizares ist dafür ein gutes Beispiel. Ist es schon ungewöhnlich genug, als Kubanerin mal nicht nur zu singen, so kommt es noch seltener vor, mit der Violine außerhalb der Klassik Karriere zu machen. Yilian Canizares macht beides und verweigert sich damit schon mal gängigen Klischees kubanischer Musik. Man merkt ihr klassischen Hintergrund an, als Jazzgeigerin spürt man andererseits den Einfluss von Gypsy Swing á la Stéphane Grapelli und ihre Palette reicht von Sakralem bis Rap. Sie singt während ihrer Soli begeistert mit. Manchmal erinnert das fast an jiddische Musik, an anderer Stelle an die exaltierten Eskapaden einer Maria Joao. Ihre Arrangements machen die Stücke wandlungsfähig. Das Thema gerät meist in den Strudel kubanischer Musik, wird Improvisationen unterzogen und findet sich dann wieder. Manchmal geht dies einher mit einer Entwicklung von lieblich bis furios. Mit wildem Getrommel oder Unisono-Spiel treibt sie ein Stück voran. Und sie macht sich Evergreens zu Eigen wie Edith Piafs „Je ne regriette rien“, das hier eher sanft rüberkommt. Canizares singt zudem in verschiedenen Sprachen, aber vor allem wirkt ihr Konzept stimmig. So ist ihr in der männerdominierten kubanischen Musikszene eine vielversprechende Karriere zu gönnen. Die Persönlichkeit dazu hat sie zudem.
Brazilika
(Verschiedene Künstler)
Far Out Recordings, Rough Trade
Brasilien / MPB, Dancefloor
Das englische Label Far Out Recordings, eines der wichtigsten und innovativsten Label für die Verbreitung brasilianischer Musik vor allem in Europa, feiert dieses Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Dazu veröffentlichte man eine neue Ausgabe ihrer Kompilations-Reihe „Brazilika“ mit von Labelchef Joe Davis zusammengetragenen Produktionen des Labels sowie einem 27-Track-Mix von DJ Spiritual South. Joe Davis ist der Pionier für brasilianische Musik in Londons Clubszene. Aus seiner Sammelleidenschaft erwuchs sein Label, welches von Beginn an dafür sorgte, dass einige essentielle, aber in Brasilien schon weitgehend vergessene Musiker wieder ins Bewusstsein traten. Dazu gehören vor allem die relaxte Sambajazz-Gruppe Azymuth und der vielleicht wichtigste Vertreter der zweiten Generation des Bossa Nova, Marcos Valle, hier mit einem schönen Stück voller textlosem Gesang vertreten. Auch die Afrosamba-Jazz-Truppe The Ipanemas holte er aus der Versenkung. Davis zog sich eine richtige Familie heran. Sabrina Malheiros, die Tochter von Azymuth-Bassist Alex Malheiros, landete genauso beim Label wie Clara Moreno, die Tochter eines weiteren Label-Stars, Joyce. Neben dem Leichtfüßigen wagte Davis aber auch immer wieder auffallend experimentelle Veröffentlichungen oder liebte gewagte Arrangements wie die indischen Klänge bei Democustico. Bei Far Out merkt man, dass es in Brasilien noch andere Legenden gibt außer Gil, Veloso und Nascimento. Auch die Speerspitze des Brazilectro, Nina Miranda & Chris Franck, die einst als Da Lata Furore machten, sind dem Label verbunden. Ihr Beitrag ist denn auch einer der hörenswertesten.
Schon immer gab es bei den Veröffentlichungen Remix-Tracks, um die Alben in der Clubszene zu etablieren, und eine eigene DJ-Sparte. Diese wird im durchgehenden Mix der zweiten CD repräsentiert. Hier dauert es eine Weile, bis das brasilianische Element wieder auftaucht. Elemente von Funk und Electronica dominieren, bis irgendwann ein Samba-Loop von der hervorragenden Grupo Batuque donnernd dazwischenfährt. Am Ende wird es chillig, man kann die CD also für einen Dancefloorabend hervorragend durchlaufen lassen.
Wer das Label als Brasilien-Fan noch nicht kennt, sollte spätestens hier mal zupacken. Man wünschte sich eigentlich ein Label mit derartiger Wirkung inklusive den damit verbundenen Konzerten für Deutschland, denn dank Far Out ist die brasilianische Musikszene in England ungleich präsenter. Und Far Out hat es verstanden, eine junge Generation (und nicht nur greise Weltmusik-Afficionados) für brasilianische Musik zu begeistern.
Amplificador – Novíssima Música Brasileira: The Brazilian 10’s Generation
(Verschiedene Künstler)
Far Out Recordings
Brasilien / Trends
Die brasilianische Musik zeigte nach 2010 neue Entwicklung, die vor allem daraus bestanden, dass die Szenen abseits der bekannten Metropolen mehr in den Blickpunkt gerieten und typisch brasilianische Charakteristika gegenüber musikalischen Experimenten in alle nur denkbaren Richtungen an Bedeutung verlieren. Das mag man bedauern, jedoch wurden in Brasilien schon immer Einflüsse von außerhalb auf eine sehr eigenwillige Weise integriert. Die Kompilation des engagierten Far Out-Labels will hierzu einen Einblick vermitteln, der aber auch nur einen winzigen Ausschnitt neuer Richtungen bieten kann. Kein Wunder bei der Größe des Landes. Heraus kommt aber auf jeden Fall, dass Brasilien ganz anders klingen kann als man es gewohnt ist. Hier geht es nicht um Coverbands zum Mainstream, sondern um eigenständige, regional begrenzte Entwicklungen, die schon länger da sind, aber erst mit dem Wegdriften von Konsumenten weg von Radio und TV hin zu Blogs usw. im Web an Bedeutung gewannen. Musiker, Fans und Journalisten tauschen sich kreativ aus und emanzipieren sich damit von den Vorkostern und der Dominanz der Musikmultis.
Am auffälligsten auf der Kompilation ist das Aufkommen von Afro-Beat-Gruppen (Abayomi, Iconili, Zebrabeat Afro-Amazónia Orquestra), die auch regionale Stile beimischen. Aber auch afrikanischer Wüstenblues (Fino Coletivo) hat seine Spuren hinterlassen. Beides eine Tendenz, die ja schon in den USA immer mehr Anhänger findet. Es gibt ferner einige verschrobene Rockgruppen wie The Baggios, die wie eine Mischung aus frühem Latin Rock und Hard Rock klingen, oder Burro Morto, die gar an europäischen Rockjazz der 70er erinnern. Zwar mag manchem Neugierigen das Ganze zu wenig brasilianisch klingen, dennoch ist es eben das, was sich derzeit in Brasilien am ehesten neu entwickelt. Man muss nur genau hinhören, dann wird man Brasilien sehr genau erkennen. So bei Aeromocas E Tenistas Russas, deren Instrumental wie eine progressive Mischung aus Reggae und Dub daher kommt, mit ständigem Rhythmuswechsel, komplex und verschroben. Oft kommt auch ein fast übertriebener, aber irgendwie doch kreativer Umgang mit Effekten dazu. Das ist eben tropicalistisch. Die surrealen und fantasievollen Ausuferungen in großen Teilen der Filme und Literatur der Tropicalismo-Zeit entsprachen dieser Herangehensweise. Herausragend ist aber die Gruppe Passo Torto mit einem beeindruckenden Unisonogesang über das ganze Stück hinweg, der auch sehr perkussiv klingt. Das ist was für Freunde des brasilianischen Scat-Virtuosen Filo Machado. Samba-Reggae, Mangue Beat und Baile Funk waren vorgestern. Man sollte auch mal reinhören, was sich seitdem getan hat.
Sulle Rive Del Tango – Aniversario
(Verschiedene Künstler)
Agualoca Records, Indigo
Moderner Tango
„Sulle Rive Del Tango“ – An den Ufern des Tangos – so nennt sich treffend eine Doppel-CD, die einen Überblick über die gleichnamige Reihe des italienischen Agualoca-Labels gibt. Die Kompilation vermittelt eine ganz eigene Auffassung von Tango, weit weg von traditionellem Tango, Tango Nuevo oder Electrotango. Diese Ausprägungen tauchen hier zwar auch auf, es dominieren aber am ehesten Stücke, die eine Tango-Atmosphäre haben, aber nicht unbedingt immer dem Tango eindeutig zugeordnet werden können. Gleichzeitig wird ein weltweites Kaleidoskop präsentiert, ob nun ein Tango mit serbischer Einfärbung bei Goran Bregovic, ein herber Song der deutschen Queen Bee oder eine virtuose Improvisation des polnischen Akkordeon-Trios Motion Trio, aber auch ein fast psychedelischer Tango von der Gruppe Tango in Vilnius. Und mit einem Male eröffnet sich eine völlig neue Welt des Tangos, die zeigt, dass die Tango-Electronica-Fusion oder die Tango-Adaptionen im Jazz der letzten Jahre nicht alles sind, was zeitgenössischen Tango ausmacht. Es geht hier auch oft um das Feeling, das der Tango hinterlässt, in der spanischen Alternative Folk-Szene oder auch bei den italienischen Cantautori wie Gianmaria Testa oder Vinicio Capossela, dem italienischen Tom Waits, der hier auch noch gepasst hätte. Italienische Musik steht dem Tango nahe. Die Frage, wer hier wen beeinflusst(e), ist dabei müßig. Im Tango steckt schon immer ein Stück Italien drin: Nach dem Zensus von 1887 waren 51% der Arbeiter und 56% der Unternehmer in Argentinien Italiener.
Die vorzügliche Kompilation zeigt auch, dass der Tango (im Unterschied vielleicht zum gleich alten Dixieland) bis heute in immer wieder neuen Varianten erstarkt, weil er ähnlich wie der Blues ein musikalisch-emotionales Grundprinzip darstellt. Sie zeigt aber auch, dass die vom Tango inspirierten Musiker in den zeitgenössischen Beispielen überzeugender sind als die hier auch vertretenen, modischen Electrotango-Formationen, die man eher in die Richtung Chill out/ Untermalungsmusik stellen kann. In Erinnerung wird auch gebracht, dass es schon immer Tangos gab, die vielleicht durch ihren Kontext erst in zweiter Hinsicht als solcher wahrgenommen wurden, obwohl sie Tangos sind. Louis Armstrongs „Kiss Of Fire“ ist hier ein solches, durchaus erquickendes Beispiel. Und auch das gehauchte Französisch bei Rupa & The April Fishes statt dem rollenden spanischen „R“ kann Tango sein. Insgesamt eine wunderbare Zusammenstellung, bei der man sich nur mehr Information über die einzelnen Musiker wünscht.