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Klassiker-Kompilation aus Brasilien: „Oi! A Nova Música Brasileira!“

Oi! A Nova Música Brasileira! – „Compiler: Mais um Gringo“

Eine Kompilation alternativer Musik aus Brasilien – „Oi! A Nova Música Brasileira!“ erscheint bei aus gutem Grund als neues Klassiker-Album aus Lateinamerika.

Oi! A Nova Música Brasileira! – „Compiler: Mais um Gringo“„Oi! A Nova Música Brasileira!“

Compiler: Mais um Gringo
Mais Um Discos, Indigo / 2011
Brasilien / Alternative Music

„Oi“ – heißt auf Portugiesisch „Hallo“ oder sollte man sagen „Hallooo – Was geht denn da ab in Brasilien?“. Diese Kompilation aus dem Jahr 2011 zeigt ein völlig anderes Brasilien, das eigentlich mehr mit der Oi!-Bewegung des Punk zu tun hat denn mit Hallo-Sagen. Schon länger fällt auf, dass die wirklich aufregenden Sachen in Brasilien von bislang unbekannten Musikern kommen, die eine Verbindung zwischen Alternative Rock und regionalen Stilen suchen oder lustvoll mit Electronica-Equipment vom Flohmarkt herumspielen. Typisch sind schräge Arrangements wie zu besten Tropicália-Zeiten, Elemente von New Wave und Punk, aber auch 60er-Psychedelic Music finden sich auf „Oi!“. Eine äußerst verschiedenartige Entwicklung ist dies bislang, der allerdings gemeinsam ist, ein anderes Bild von Brasiliens Musikszene zu liefern als die schicke und urbane Nu-Bossa-Szene oder der stark auf Rio reduzierte Baile Funk. So fällt denn auch auf, dass auf der Kompilation die meisten Acts aus Belém, Recife oder Brasilia kommen, also abseits der bekannten Zentren. Mit „Oi!“ wird hier ein musikalisches Aufbegehren gegen die zunehmende Kommerzialisierung brasilianischer Musik durch primitive Party-Musik und die Dominanz des internationalen Mainstreams in Brasilien symbolisiert. Insofern gibt es keinen eigentlichen Begriff für diese Bewegung, sondern ein gleichzeitiges Aufkommen unterschiedlichster Stile wie Tecno-Brega, Carimbo oder Punk-Forró.

Um sich zu orientieren, ist der Doppel-CD eine Landkarte beigelegt, die allerdings etwas Geduld beim Zuordnen der Bands zu den Bundesstaaten abverlangt. Erwähnen sollte man noch, dass schon seit langem São Paulo eines der innovativen Zentren ist. Von hier kamen schon länger neue Acts aus der Alternative Rock– und Electronica-Szene wie CéU, Cibelle oder zuletzt die kindlich-verspielte Tulipa. Wenn es aber eine Vorreiter-Gruppe für diese Entwicklung gibt, dann ist es Ende der 80er Jahre Chico Science & Nação Zumbi aus Recife mit ihrem Mangue Beat, deren Ziel es war, die regionalen Traditionen mit globalen Musikströmungen wie Dub, Hip Hop und Electronica zu verbinden, um auf diese Weise die eigenen musikalischen Traditionen wiederzubeleben. Seit dem Tod von Science haben die Musiker von Nação Zumbi bis heute überall ihre Finger drin, insbesondere in der São Paulo-Szene. Namen wie Otto, Instituto oder DJ Dolores sind hier wichtige Ableger.

Zusammengestellt hat diese essentielle Kompilation einer der ehemaligen Headhunter des englischen Far Out-Labels, Mais Um Gringo. Er führt uns zu einem bislang kaum bekannten musikalischen Planeten, in dem sich Slideguitars und Steeldrums, Country und Calypso sowie der recht verbreitete Pieps-Gesang treffen wie bei Mini Box Lunar aus dem nördlichen Bundesstaat Amapá, die man schon mit den legendären Os Mutantes vergleicht. Und wer wissen will, wie sich Brega mit New Wave-Einflüssen anhört, der lausche Cidadao Instigado aus Ceará. La Pupuna aus Pará dagegen mixen Surfsounds mit Merengue und können auch ganz schon punkig rotzen. Während in Europa alles auf den inzwischen recht kalkulierbaren Mestizo Rock schwört, zeigen die Brasilianer, was man noch alles im Latin-Bereich veranstalten kann, ohne sich abzunutzen. Insgesamt findet man überraschend eingängige Melodien, unaufwändige Produktionen, dafür vertrackte Songs mit vielen Breaks und Instrumentenwechseln.

Fast alles klingt unverbraucht und wirklich abseits des Mainstream. Da gibt es Bands wie Chernobyl & Braga aus Porto Alegre im Süden. Sie zeigen mit zungenbrecherischen Raps und uralten Synthiesounds, dass nach Baile Funk schon wieder Neo-Baile Funk angesagt ist. Bei Maderito & Joe aus Belém quiekt, furzt und zirpt es herrlich. Hier ist noch alles erlaubt. Ihr Ding ist der durchgeknallte Eletro Melody, eine alberne Knöpfchendreherei mit exzessiv genutztem Auto-Tune-Effekt. Und Baiana System aus Bahia spielen eine gut gelaunte Melodie mit zischenden Synthies zu überschnellen afrikanischen Gitarren-Riffs. Burro Morto aus Paraiba versetzen ihren Cosmic-Prog mit melancholisch piepsenden Atari-Keyboards und jazzrockigen Improvisationen. Aber es geht auch noch ganz anders. Alessandra Leão begleitet sich mit sanften Souskous-Gitarren zu einem Samba-Rhythmus oder Lucas Santtana aus Bahia spielt seine Gitarre betörend wie ein sanftes Glockengeläut.

Nach zweieinhalb Stunden hat man garantiert ein anderes Brasilien-Bild und nach und nach übrigens alle brasilianischen Bundesstaaten kennengelernt.

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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