Was gibt es Neues in der lateinamerikanischen Musik-Szene? Die Antwort darauf gibt Hans-Jürgen Lenhart in den Latin Music News #16.
Baby do Brasil – „Baby Sucessos – A Menina Ainda Dança“
Coqueiro Verde (DVD + CD)
Brasilien / MPB
Wenn es ein Pedant zu Nina Hagen in Brasilien gibt, dann ist es Baby Consuelo alias Baby do Brasil. Sie ist dort eine Pop-Ikone, musikalisch eher der MPB und dem Mainstream-Pop zuzurechnen. Sie gehörte den Novos Baianos an, eine der wichtigsten brasilianischen Rockgruppen und legendäre Hippiekommune. Aus ihr gingen einflussreiche Musiker wie Dadi, Moraes Moreira oder Pepeu Gomes hervor. Letzteren heiratete sie und hatte drei ihrer sechs Kinder mit ihm. Baby do Brasil war in der 80ern am erfolgreichsten und widmete sich nach 1998 nur noch einer evangelikalischen Sekte. In Sachen religiöser Erleuchtung wie auch Bühnenoutfit bestehen damit verblüffende Ähnlichkeiten zu Nina Hagen. Zu ihrem 60. Geburtstag gönnte sich Baby ihren Fans eine Wiederauferstehung, ließ ihren Sohn Pedro Baby (e-g) eine tolle Band mit vielen Bläsern zusammenstellen und gab 2014 in Rio ein Konzert, das hier auf DVD und CD mitgeschnitten wurde. Das war natürlich ein besonderes Ereignis, bei dem es sich selbst Caetano Veloso nicht nehmen ließ, als Gast aufzutreten.
Musikalisch holt Baby alles aus ihren Hits raus. Mal geht es Richtung Rock, die Bläser klingen durchaus funky, aber sie zeigt auch, dass sie mal Samba gespielt hat oder wie eine Jazzsängerin scatten kann. Die Kompositionen sind eher durchschnittlich, wirken aber gerade durch die fetzigen Arrangements mitreißend. Und Babys punkiges Outfit ist einen Hingucker wert.
Viviane De Farias – „Vivi“
In&Out Records, in-akustik
Brasilien / Brazil Jazz
Während der jüngere brasilianische Jazz sich im Moment neu positioniert, aber bisher nicht recht überzeugt, zeigt dieses Album noch mal die Qualitäten der Generation davor. Die in Deutschland lebende, brasilianische Sängerin Viviane De Farias wird auf „Vivi“ von dem eingespielten Duo Paulo Morello (e-g) und Kim Barth (as, fl) unterstützt, die sich mit brasilianischer Musik bestens auskennen. Irgendwo zwischen Fusion, Balladen und Bebop lässt es sich ansiedeln, wobei die schnelleren Stücke am ehesten überzeugen. De Farias verfällt immer wieder mal in Scats und Unisono-Spiel mit ihren Partnern, die mit ihren Soli wiederum besonders die Balladen verfeinern. Herausragend ist „Soneto Da Boneca Apática“ gelungen, in dem ein Sambareggae auf Marschrhythmik trifft und Sprechgesang auf Klavierimprovisationen. Manchmal erinnert diese Musik an die jazzigeren Alben von Joyce, bietet aber aufregendere Momente. Zu erwähnen ist noch der inzwischen über 80jährige Gast-Posaunist Raoul De Souza mit seinem unvergleichlich weichen Ton, von dem man viel zu lange nichts mehr gehört hat.
Hamilton De Holanda & O Baile Do Almeidinha
Brasilianos
Brasilien / Bandolim, Jazz, Choro
Schon wieder was Neues vom Bandolim-Virtuosen Hamilton de Holanda und man hat das Gefühl, jetzt hat er noch eins draufgelegt. Diesmal kooperiert er mit einer Bläsertruppe und Perkussionisten, was die Musik sehr dynamisch macht. Seine irrwitzigen Läufe auf der brasilianischen Mandoline sind noch verblüffender als sonst, zumal er sie oft unisono mit der Band spielt. Manchmal meint man, das alles wäre auf zu schneller Geschwindigkeit abgespielt. De Holanda ist in Bestform und es tut dieser komplexen Musik zudem gut, dass mancher Samba mitgesungen wird und ohrwurmartige Melodien dabei sind.
Ian Lasserre – „Sonoridade Pólvora“
Ajabu!, Broken Silence
Brasilien / Singer-Songwriter
Seit einigen Jahren verbreitet sich in Brasilien eine neue Ästhetik des Reduzierten. Insbesondere Sänger, die irgendwo zwischen MPB und Singer/Songwriter einzuordnen sind, setzen auf sparsame Instrumentierung und verhaltenen Gesang. Manches davon erinnert an ähnliche Aufnahmen aus der Mitte der 70er, so auch der sehr melancholisch wirkende Sänger und Gitarrist Ian Lasserre. Dennoch hat jedes seiner Stücke eine andere Klangfarbe durch Gastmusiker mit ihren unterschiedlichen Instrumenten. Das geht von der Mandoline zur arabisch klingenden Geige, von der Jazzgitarre bis zur Klarinette. Lasserre hat eine erzählerische, sanfte, unaufgeregte Stimme, die etwas an Celso Fonseca erinnert. Das ist eine Musik, die vor sich hin spielend die Zeit still stehen und beim Ausprobieren die Ideen kommen lässt. Gleichzeitig mag diese Rückbesinnung auf die Schönheit des Einfachen zusammenfallen mit einer Zeit, in der in Brasilien aus wirtschaftlichen Gründen sparsamen Produktionen angesagt sind. Scheinbar versteht man eine Tugend daraus zu machen. Das Album produzierte der Schwede Sebastian Notini, der schon mit Tigana Santana einen dieser neuen Minimalisten bekannt machte.
Juana Molina – „Halo“
Crammed Discs, Indigo (CD), PIAS(digital)
Argentinien / Avant-Pop
Das schaurig-schöne Cover mit den Augen im Knochen hat was, die Musik der argentinischen Heimstudiomusikerin Juana Molina, die mit der Hexerei liebäugelt, ist dennoch keine beeindruckende Studiohexerei. Etwas bedächtig mischen sich obskure Klänge, gephaseter Flüstergesang, Sequenzer-Rhythmen und ein paar Instrumente zu einer Art düsterem Industrial Pop, der aber weit hinter den Experimenten ihres Landsmannes Axel Kryger zurückbleibt. Das Meiste klingt dem Niveau des frühen Synthie-Pop oder der Industrial Music Anfang der 80er nicht unähnlich. Lediglich wenn Molina mal auf die Rhythmik verzichtet, entsteht eine intensive Ambient-Atmosphäre.
Quatuor Ébène ft. Michel Portal – „Eternal Stories“
Erato, Warner Classics
Frankreich / Crossover Jazz, Tango, Klassik
Die Kooperation des Streichquartetts Quatuor Ébène mit dem französischen Klarinettisten und Bandoneonspieler Michel Portal, der hier noch einen Schlagwerker und einen Keyboarder hinzuzog, führt auf „Eternal Stories“ zu einer in viele Richtungen offenen Musik und beinhaltet mit dreien der „5 Tango Sensations“ auch Stücke aus dem Spätwerk Astor Piazzollas. Die Kombination Jazz und Streicher geschieht ja eher selten und mit oft süßlichen Ergebnissen, was hier aber völlig anders ist. Während sich die Stücke entwickeln, bieten sie stilistische Streiflichter, dynamische Kontraste und unübliche Klänge und Rhythmen. Das kann Minimal Music sein oder Filmmusik, es gibt Momente intensiver Perkussion und selbst die Art Fusion Jazz des Miles Davis der 70er lässt sich heraushören. Manches wirkt wie eine Tauchfahrt, bei der vieles vorbei schwimmt. Taucht man dann auf, kann man sich schon mal in einem musikalischen Sturm wiederfinden. Die Stücke Piazzollas vermitteln dagegen eher einen Ruhepol und eine Facette in diesem interessanten Opus, in dem vor allem die Streicher ungewohnt eingesetzt sind.
Junglelyd – „Paracaidas“
Sounds of Subterrania, Cargo, Finetunes
Dänemark / Electro-Cumbia
Junglelyd ist ein Electro-Cumbia-Projekt aus Dänemark, hat aber kaum etwas mit den skurrilen Psychedelic Sounds der modernen Chicha-Bands zu tun. Die Musik wirkt eher wie eine Dub-Produktion, imponiert aber mit einer stimmigen Mischung aus langsameren Cumbia-Rhythmen, schwebenden Sounds, Surfgitarren, einfacher Melodik, spärlichen Soundeffekten und einem Schuss Funk. Das geht gut ins Ohr und gewinnt dem Cumbia-Hype eine überzeugende Variante ab.
Lord Echo – „Harmonies“
Soundway, Indigo
Neuseeland / Reggae-Rocksteady-Crossover
Ein echtes Überraschungsei kommt jetzt aus Neuseeland. Lord Echos stimmige Mischung aus Reggae, Rock Steady, Dub, Soul, Afro Pop und einem Touch Jazz ist echt was für Gefühl und Beine gleichzeitig und überzeugt schon nach kurzem Anhören. An manchen Stellen klingt es, als hätte Marvin Gaye mal ein Reggae-Album eingespielt. Doch es gibt auch Referenzen an Manu Dibango oder einen Anflug von Philly Sound. „Harmonies“ ist zwar prinzipiell ein Reggae-Album, gleichzeitig aber voller subtiler Ideen in viele musikalische Richtungen. Da ist das coole verhallte Saxophon, es gibt sphärische Stücke mit Vibraphon und gehauchtem Gesang und unerwartete Sequenzer-Rhythmen mit dubbigen Bläsern. Lord Echos laszive Stimme erinnert in „Note From Home“ auch mal an Sade, während er sich in „Life On Earth“ rhythmisch und stimmlich in Richtung Marvin Gayes „What’s Going on“ orientiert. Und wenn die Gast-Sängerin Lisa Tomlins zum Zug kommt, wird der Groove unschlagbar. Könnte man ewig hören.
Lord Echo aka Mike Fabulous war Produzent, Gitarrist und Sänger der neuseeländischen Band The Black Seeds und holte sich mit diesem Album aus einer desaströsen Midlife Crisis mit Alkohol- und Finanzproblemen heraus. Operation gelungen, kann man da nur sagen. Für einen vor kurzem noch psychologisch ruinierten Musiker wirkt das alles wunderbar entspannt. Ab und zu gibt es eben doch ein absolutes Highlight in der Reggaeszene, das man gehört haben muss.