João Gilberto verstorben
Beginnen wir diesmal mit einer traurigen Nachricht: Am 6. Juli 2019 verstarb in Rio de Janeiro 88jährig der vielleicht einflussreichste Musiker, den Brasilien jemals hatte: João Gilberto, der neben Antônio Carlos Jobim als Erfinder der Bossa Nova gilt. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass man brasilianische Musik bis heute zuallererst mit Samba und Bossa Nova verbindet. Und Bossa Nova ist eine Weiterentwicklung des Samba Canção in Verbindung mit Cool Jazz. Für beide Stile gibt es Pioniere und wegweisende Musiker, weltweit sind die der Bossa Nova allerdings bekannter. Gilbertos erfolgreichster Hit „The Girl From Ipanema“, den er zusammen mit Jobim, seiner Frau Astrud Gilberto und dem amerikanischen Jazzsaxofonisten Stan Getz 1964 veröffentlichte, wurde zum Inbegriff des relaxten Gefühls, für das Bossa Nova steht. Wenn man über Latin Music schreibt, kommen einem locker ein paar Hundert Versionen von Gilbertos Klassikern wie „Desafinado“ und „Samba de uma nota só (One Note Samba)“ auf den Schreibtisch. Gilbertos synkopiertes Gitarrenspiel und sein Flüster-Gesang sind bis heute unschlagbar.
Umso erschreckender ist es, dass Gilbertos Privatleben zuletzt in keinster Weise so relaxed wie seine Musik war. Schon sein Kollege Stan Getz war drogensüchtig, neigte privat zu Ausfälligkeiten und musste seine Karriere durch Gefängnisaufenthalte unterbrechen. Auch João Gilberto war schon immer von Eigensinn und Unzuverlässigkeit geprägt. Im letzten Jahrzehnt lebte er komplett zurückgezogen in Rio, wurde wegen Mietrückständen aus seiner Wohnung verwiesen und hatte nach Angaben seiner ältesten Tochter Bebel, die auch als Musikerin recht bekannt wurde, kein Geld mehr. Offenbar wurde er von einer jüngeren Journalistin verführt, die von ihm schwanger wurde und sein Management übernahm. Dabei plünderte sie seine Konten und soll 2011 Verträge über eine Fünf-Städte-Tour abgeschlossen und Vorschüsse in Millionenhöhe kassiert haben, obwohl der bereits verwirrte João gar nicht mehr auftreten konnte. Tochter Bebel ließ ihren Vater daraufhin entmündigen. Weiteres Unheil folgte, die Managerin verpfändete Joãos Rechte an seinen ersten vier LPs, Neuabmischungen davon verhunzten sein Lebenswerk. Es kam zum Prozess, den er gegen den Musikkonzern EMI verlor. Am besten, man behält ihn in seiner Musik in Erinnerung, denn diese ist für die Ewigkeit.
Bossarenova Trio – „Atlântico“
Skip Records
Deutschland, Brasilien / MPB, Jazz
Das Bossarenova Trio mit Paula Morelenbaum (voc), Joo Kraus (tp) und Ralf Schmidt (p, arr) hat sich seit 2013 gefunden, um den Bossa Nova zu renovieren, aufbauend auf frühere Projekte. Bossa Nova wird zwischen Tradition, Jazz und ein wenig Elektronik ein zeitgemäßer Touch verpasst, allerdings ausgewogen genug, um nicht als Brazilectro durchzugehen. Neben der klaren Stimme Morelenbaums und der jazzigen Trompete von Joo Kraus sind raffinierte Halleffekte, elektronische Treatments und programmierte Rhythmen auffallend. Es finden aber auch samtweiche Akustikballaden, die im Vergleich konventioneller wirken, wie überhaupt die Stimmigkeit des Gesamteindrucks hier wohl wichtiger war als das Ausreizen von Klangexperimenten um die Bossa Nova herum wie in den Vorgängerprojekten. Auch schwebt der Geist von João Gilberto über der Musik, denn sein „One Note Samba“ bekommt ein Update mit schönen Scats von Morelenbaum und tanzbaren Beats. Insgesamt keine Offenbarung, aber besser alles vieles andere in der Richtung.
Dila – „Dila“
Far Out Recordings
Brasilien / MPB (Reissue von 1971)
Und noch ein bisschen brasilianische Vergangenheit. Das englische Far Out-Label veröffentlicht ja alle paar Monate obskure brasilianische Alben, die wie dieses hier fast 50 Jahre alt sind. Die Sängerin Dila hatte nur eine kurze Karriere, da sie angeblich bald nach diesem Debutalbum bei einem Autounfall ums Leben kam. Ihre Stimme war ausdrucksvoll, immer ein bisschen rau, die Musik von einem swingenden Piano geführt und zwischen MPB und Soul angelegt. Ivan Lins‚ Klassiker „Madalena“ (durch Elis Regina bekannt geworden) bringt Dila z. B. sehr intensiv. Da hätte mehr draus werden können.
Os Novos Bahianos – „É Ferro Na Boneca!“
Mr. Bongo
Brasilien / MPB (Reissue von 1970)
Auch das englische Mr. Bongo-Label ist ja auf Wiederveröffentlichungen spezialisiert und brachte nun mit dem ersten Album der „Os Novos Bahianos“ eine der wichtigsten Bands der brasilianischen Rockgeschichte wieder in Erinnerung. Die Gruppe war so etwas wie die Inkarnation der Hippie-Bewegung Ende der 60er in Brasilien und wirkt bis heute nach, da ihre einzelnen Mitglieder später mit Solokarrieren auch Geschichte schrieben. Auf diesem Album sind es Paulinho Boca de Cantor (voc), Pepeu Gomes (eg), Moraes Moreira (voc, ac-g) und Baby Consuelo (voc, perc). Ihr Debut ist nicht so überzeugend wie das zwei Jahre später entstandene Album „Acabou Chorare“, wirkte aber für damalige Verhältnisse recht progressiv. Die meisten Titel erinnern an den beschwingten Popsound der Sechziger wie er insbesondere im Musical „Hair“ präsentiert wurde, aber es gibt auch einen Tango, einen Baiao und im Opener eine Mischung aus Beatmusik und Fuzzgitarrenrock sowie ein paar leicht psychedelische Momente Marke Afri-Cola-Rausch. Die spätere Hippiekommune löste sich zwar 1978 auf, traf sich aber bis 2009 noch zu etlichen Wiedervereinigungen und Alben.
Lenine – „Em Transito“
Wrasse Rec (Harmonia Mundi)
Brasilien / MPB
Lenine zeigt sich in dieser Live-Aufnahme von allen Seiten: sanfte Balladen auf Klavier (insbesondere das ergreifende „Lua candeia“) und Gitarre, krachige Rockstücke, eingängige Popsongs mit Reggae-Touch, auch mal ein Vokal-Loop als Rhythmusspur, Einsatz unkonventioneller Arrangements mit programmierten Rhythmen und schrägen Sounds. Letztlich könnte man sagen, er hat irgendwie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der brasilianischen Musik drauf und changiert zwischen MPB, Rock und Elektro. So baut er an seiner eigenen Legende.
Santana – „Africa Speaks“
Concord, Universal
Latin-Afro-Rock
Carlos Santana hat schon auf seinem vorletzten Album „IV“ mit den Musikern seiner früheren Woodstock-Band eine Abkehr von seiner Latin Pop-Phase und damit eine Rückkehr zu seinen Wurzeln im Latin Rock vollzogen. Auf „Africa Speaks“ macht er das im Grunde noch konsequenter, erinnern viele Stücke darauf an den Sound eigener Klassiker wie „Soul Sacrifice“ oder „Jingo“. Und dennoch: So klang Santana insgesamt auch noch nicht. Es ist eine besondere Mischung aus viel Perkussion/ Schlagzeug, rockiger, krachiger Gitarre und Gesang, in dem Fall insbesondere von der spanischen Flamenco-Sängerin Concha Buika. Letztere wählte Santana wohl bewusst. Sie stammt zwar aus Mallorca, ihre Eltern aber aus Äquatorialguinea und sie ist mit Jazz und Soul ebenfalls vertraut. Alles was Santana ausmacht, lateinamerikanische Rhythmik, Rock, Jazz und Blues, die dominante Perkussion lassen sich – wie Santana Eingangs erinnert – ursprünglich auf Afrika zurückführen, was natürlich keine neue Erkenntnis ist. Seltsam nur, dass dieses „Africa Speaks“-Album trotz viel Getrommel und einer dunkelhäutigen Sängerin gar nicht so streng afrikanisch klingt. Santana ist halt keiner, der wie so viele derzeit für einen Afrika-Bezug mal eben den leicht erkennbaren Afro Beat untermischt. Vielmehr war schon immer Afrika in seinem Stil drin: Sein erster Hit „Jingo“ stammte z. B. vom nigerianischen Perkussionisten Babatunde Olatunji. Und genau in diesem klassischen Latin Rock-Stil aus der Zeit jenes Hits spielt Santana hier im Grunde etliche Jam Sessions. Passt ja zu 50 Jahre Woodstock und wird die alten Fans erfreuen. Afrika spricht auch im Titel „Blue Skies“, denn es ist eigentlich eine Coverversion des Stücks „Chant Of Mother Earth“ vom nigerianischen Funk-Rock-Trio BLO, die angeblich Santana verehrten. Den afrikanischen Ursprung merkt man dabei ebenfalls nicht. Der sanft-gleitende Anfang erinnert eher an die Jazzfusion-Phase Santanas in den 70ern, danach geht es in typische Westcoast-Rock-Gitarrenduelle mit ungeschliffenen Wah Wah-Klängen über. Auch dass „Candombe Cumbele“ auf einen Rhythmus afrikanischer Sklaven in Uruguay basiert, erschließt sich einem nicht ohne weiteres. „Los Invisibles“ wiederum hat gar einen funkigen algerischen Rai-Rhythmus. Afrika wirkt also auf dem Album eher subtil, es ist vielmehr eine Reise durch Santanas stilistisch vielfältige Vergangenheit.
Gewöhnungsbedürftig ist trotz der begrüßenswerten Entscheidung, eine Frau ans Mikro zu lassen, Buikas Gesang. Sie mag eine gute Flamenco-Stimme haben, bewegt sich aber ständig in der gleichen Ausdrucksform, ist wenig wandlungsfähig. Die meisten Stücke haben zudem keine einprägsame Melodie, von Hitpotential erst recht nicht zu sprechen, sondern sind voller instrumentaler Improvisation. Da gerät Buikas Gesang zu sehr auch in den Wall of Sound. Letztlich kommuniziert Santana sogar eher mit seiner Frau Cindy am Schlagzeug denn mit seiner neuen Sängerin. Ein reines Instrumentalalbum hätte hier sogar runder gewirkt.
Insgesamt jedoch besticht Santana mit alten Qualitäten und es sei dem Meister gegönnt, dass er die schon immer vorhandene afrikanische Verbindung seiner Musik einmal hervorhebt. Die Gemeinsamkeiten afrikanischer und lateinamerikanischer Musik zum Konzept zu erklären, nimmt derzeit in der Musikszene zu. Vielleicht hat es ja auch mit der gemeinsamen Ausgrenzung dieser Kontinente durch westliche Nationen zu tun.
Domenico Codispoti & Esteban Ocaña – „Tangata – Astor Piazzolla – Music For Two Pianos“
Odradek Records
Tango Nuevo
Der italienische Pianist Domenico Codispoti hat zusammen mit dem spanischen Pianisten Esteban Ocaña bekannte Titel von Astor Piazzolla eingespielt, Stücke wie „Oblivion“, „Milonga del Ángel“ und „Libertango“. Die zwei Klaviere sorgen für dynamische Wucht, die beiden Musiker spielen sich Teile zu, bilden ein Echo oder antworten sich in unterschiedlichen Tonlagen. Das Ganze erinnert an Stummfilmmusikbegleitung, da es hier eine ähnliche Emotionalität und Dynamik gibt. Insgesamt für Klassik- wie für Tangofreunde gleich interessant.
Wie heißt die junge Sängerin in dem Video „Mas wie nada“ playing for change?