Die in Rio geborene und stets gut gelaunte, brasilianische Sängerin Flavia Coelho kam vor zehn Jahren mit einer Karnevalstruppe nach Paris und blieb dort hängen. Seit 2011 startete sie dann ihre musikalische Karriere von dort aus. Das tat ihrem Sound insofern gut, wie sie frei von den Trends ihres Heimatlandes brasilianische Musik stilistisch stark erweiterte und sehr zeitgemäß arrangierte. Von afrikanischen Rhythmen bis hin zu Balkan Pop kann man in ihrem Repertoire viele Einflüsse ausmachen. Ihr erstes Album „Bossa Muffin“, nach dem sie ihren Stil benannte, ließ sie anschließend gleich von angesagten französischen DJs ziemlich radikal remixen. Sie lehnt ihre brasilianischen Songs stark an Reggae und vor allem Dub an, wobei es fließende Übergänge zu Ragga, Ska, Forrò, Rap oder Baile Funk gibt. Die Bühnenshow wiederum spart auch nicht an discoartigen Stroboskopeffekten. Ihre Konzerte feiern das Leben, aber sie hat dieses auch von unten gesehen und wuchs in Favelas auf, was sich in manchen ihrer Texte widerspiegelt. Ihre Karriere startete sie ebenfalls ganz unten als Sängerin in der Pariser Metro. Inzwischen füllt sie dort jedoch die großen Hallen. Nach inzwischen nur vier Alben hat sie sich mit an die Spitze der zeitgemäßen brasilianischen Sängerinnen gespielt und repräsentiert eine neue Generation brasilianischer Musik.
Hans-Jürgen Lenhart traf Flavia Coelho bei einem Konzert am 01.12.2016 in der Frankfurter Brotfabrik:
Hans-Jürgen Lenhart: Du nennst deinen Stil „Bossa Muffin“ Wie kam es dazu?
Flavia Coelho: Mein erstes Album wurde so genannt. Ich mischte ziemlich viele Stile und dadurch ergab sich das Problem, dass man es keiner Richtung mehr zuordnen konnte. So habe ich gesagt, traditionelle und aktuelle brasilianische Stile zu mischen, das ist ein „Bossa Muffin“, denn nicht alles ist Bossa Nova, was aus Brasilien kommt. Im Grunde hat sich mit Gilberto Gil und Lenine schon viel stilistisch geändert, aber die Bekanntheit dieser Namen verbirgt, dass es inzwischen jede Menge weiterer Musiker mit neuen Ideen gibt.
Hans-Jürgen Lenhart: Du wohnst in Paris. Klingt deine Musik dadurch anders als wenn du in Brasilien geblieben wärst?
Flavia Coelho: Natürlich. Meine Musik konnte nur zusammen mit meinen Musikern so entstehen, denen ich nun mal in Paris begegnet bin. In Brasilien glaubt man oft, alles Mögliche käme aus meiner Heimat: die Gitarre, das Akkordeon usw. Von Frankreich aus habe ich viel besser verstehen können, was brasilianische Musik einerseits ist und wie mein persönlicher Stil daneben existieren kann.
Hans-Jürgen Lenhart: Reggae und Dub machen einen Großteil deiner Musik aus. Begann dein Interesse daran eigentlich schon in Brasilien?
Flavia Coelho: In Brasilien habe ich bereits in meiner Kindheit jede Menge Reggae gehört, aber genauso afrikanische und karibische Musik, Dub usw. Das hat meine Musik beeinflusst. Aber afro-brasilianische Musikerin zu sein, bedeutet auch, senegalesische oder südafrikanische Musik zu studieren. Dazu war es nötig, nach Paris zu kommen.
Hans-Jürgen Lenhart: Du thematisierst oft deine Erfahrungen der brasilianischen Gesellschaft aus deiner Zeit in den Favelas. Brasilien hat in den letzten Jahren eher für Negativschlagzeilen gesorgt mit dem Ärger um Präsidentin Roussef und den Protesten gegen die Olympischen Spiele. Hat das deine Gefühl gegenüber deiner Heimat verändert?
Flavia Coelho: Ich glaube, die brasilianische Gesellschaft hat sich sehr schwer damit getan, eine Frau an der Spitze zu akzeptieren. Und es gibt eine Kaste reicher und ziemlich rechter Politiker, die kein Interesse an den Nöten des Volkes hat. Es existiert ein großer sozialer Rassismus bei uns, aber es besteht dennoch Hoffnung. Die brasilianische Linke unterstützt weiterhin Leute wie Lula und die Protestbewegungen. Manchmal bedarf es eines solchen Konflikts wie um Roussef, damit die Leute aufwachen. Ihre Ablösung war jedenfalls nicht gerechtfertigt. Andererseits haben auch die Proteste um die Olympischen Spiele die Aufmerksamkeit auf Brasilien gezogen, doch inzwischen ist das alles vergessen.
Hans-Jürgen Lenhart: Es gibt wahrscheinlich nicht allzu viele Musiker, die in der Pariser Metro begannen und nach nicht allzu langer Zeit große Hallen füllen können. Wie hast du das geschafft?
Flavia Coelho: Wir arbeiteten sehr hart. Ich hatte zwar Glück, aber ich habe an mich und das Publikum geglaubt. Du musst etwas mit Leidenschaft machen. Dann macht auch etwas Spaß und die viele Arbeit stresst dich nicht so. Du darfst halt niemals aufgeben. Ich fing in kleinen Bars und bei Wettbewerben an und so langsam bekommt man dann seine Reputation.
Hans-Jürgen Lenhart: Du hast keine Berührungsängste mit Studioeffekten und Remixen. Hat dein Remix-Album deine Musik danach beeinflusst?
Flavia Coelho: Ich habe viele Freunde in der Electroszene und höre das auch oft. Es ist immer wieder eine neue Herausforderung für mich. Ich bekam meine Kontakte zu der Szene über Festivals und es wurde auch was draus, weil ich gerne mit jedermann überall spielen können möchte. Meine Grundidee ist aber, dass meine Stimme der Musik dient.
Hans-Jürgen Lenhart: In Paris gibt es erstaunlich viele brasilianische Musiker. Was macht Paris so attraktiv für Brasilianer?
Flavia Coelho: Paris ist schon immer eine Stadt der Künstler gewesen und das zieht Leute an. Paris hat große Künstler hervorgebracht und daraus hat sich ein Lebensstil entwickelt. Hier treffen sich die unterschiedlichsten Leute, insbesondere afrikanische und orientalische Musiker. Das kann Brasilianern nur nützlich sein. Chico Buarque lebte z. B. eine ganze Weile in Paris.
Hans-Jürgen Lenhart: Die Verbreitung brasilianischer Musik in Deutschland hat bezüglich der Konzertszene nach einem Boom in den Neunzigern recht abgeebbt. Hast du das auch so empfunden?
Flavia Coelho: Ja, nach 2000 etwa war der Markt wahrscheinlich etwas übersättigt damit. Nur Bossa Nova ging noch. Die großen Namen haben den Markt zu sehr dominiert. Aber heute hat sich das gewandelt. Es gibt eine neue Generation, die auch nicht nur als rein brasilianische Musik spielend wahrgenommen werden will und die ist sehr lebendig.
Aktuelles Album:
„Sonho Real“ (Le Label, PIAS / 2016)