Nach zwei Monaten ist es einmal wieder Zeit, uns die aktuelle lateinamerikanische Musik in unseren Latin Music News vor Augen (und Ohren) zu führen.
Stanley Jacobs & The Ten Sleepless Knights – „Quelbe!“
Smithsonian Folkways Recordings / Galileo-mc
Quelbe, Jungferninseln
Fangen wir mit einigen Herrschaften an, die allein für ihr schräges Karo-Hemd-Muster einen extra Punkt verdienen. Stanley Jacobs & The Ten Sleepless Knights kommen von den amerikanischen Jungferninseln und die gehören, was bestimmt nicht jeder sofort weiß, zu den kleinen Antillen östlich von Puerto Rico. Wieder was gelernt durch Musik und was Quelbe ist, weiß auch kaum jemand, aber so heißt die Musik von dort. Sie klingt nicht unähnlich dem Calypso, ist aber instrumentaler geprägt. Vor allem die Querflöte, dann aber auch Triangel, Ratsche und ein kleines Banjo prägen den Sound. Man singt dazu und die Texte schildern historische Ereignisse der Inseln. Ein bislang bei uns unbekannter, fröhlicher Musikstil der Karibik wartet auf seine Entdeckung durch Neugierige.
Gregor Huebner – „El Violin Latino Vol. II – For Octavio“
GLM, Soulfood
Latin Jazz
Für den Geiger Gregor Huebner ist die (Latino-)Violine der gemeinsame Nenner verschiedener Stile. Entsprechend hat er sein Album mit Musikern aus Kuba, Brasilien und Argentinien eingespielt, was auch das stilistische Kaleidoskop widerspiegelt. Hinzu kommt, dass viele der Musiker aus der New Yorker Szene stammen und er auch in den Niederlanden und Deutschland aufgenommen hat. Zudem kommt er eigentlich von der osteuropäischen Musik her. Da kommt schon viel zusammen, was das Album durchaus abwechslungsreich macht. Huebner spielt Kompositionen von mehr oder weniger bekannten Latin-Komponisten – auch eigene Stücke – insgesamt meist mit der Herangehensweise des Jazzers. Die Palette reicht von Bossa Nova, Rumba bis Tango und mehr. Auch tragen etliche Sänger zu dieser Palette bei. Erst im fünften Stück werden allerdings die Hörer bedient, für die Latin immer nur dominante Rhythmen bedeutet. Doch Huebners größtes Talent zeigt sich eher in Tango-Stücken. So stechen sein Trauerlied für den befreundeten und gerade verstorbenen Tangopianisten Octavio Brunetti, das die ganze Melancholie des Tangos ausgespielt, und der Tango „A Miguel Ange“ hervor. Am Ende bekommt das Album noch mal ein Schub an Kreativität. Da wird ein Gedicht über New York vertont und anschließend schließt ein gekonntes Solo – auch ein Tango – mit Wellengeräuschen das Album stimmungsvoll ab.
Carrie Rodriguez & The Sacred Hearts – „Lola“
Luz Records
Latin Country
Schon Carrie Rodriguez‘ Name deutet auf die Konstellation ihrer Musik hin: halb amerikanisch, halb spanisch-mexikanisch. Die Sängerin und Geigerin arrangiert Lieder ihrer Lieblingskomponisten aus Mexiko sowie eigene Songs zu einer Art Latin Alternative Country der sanften Art. Das erinnert an die atmosphärischen „Majestic Silver Strings“ von Altmeister Buddy Miller. Kein Wunder, ist doch auf beiden Alben der Garant für ruhige, schwebende Sounds dabei: Jazz-Gitarrist Bill Frisell, der ja ein Faible für Country Music hat. Auch weitere erfahrene Musiker aus der Welt stimmungsvoller, fast ambientartiger, aber auch oft sehr gefühlsbetonter Country Music mit Verwurzelung im Mexikanischen sind dabei. Bassist Viktor Krauss taucht in solchen Zusammenhängen wie selbstverständlich auf, die Lap- und Pedal Steel Guitar darf nicht fehlen, hier von Luke Jacobs gespielt, und Raul Malo, latinstämmiger Crooner der Mavericks ist Gastsänger. Der Gesang von Carrie Rodriguez ist weniger schluchzend wie bei den Ranchera-Sängerinnen, eher schmeichlerisch-leichtfüßig. Was beim ersten Hinhören noch eher nach Country klingt, weil meist zweisprachig gesungen, ist vielmehr eine höchst interessante Mischung mexikanischer Emotionalität, country-mäßiger Beschwingtheit und soft-jazziger Atmosphäre. Gewinnt mit dem Anhören.
Xixa – „Bloodline“
Glitterhouse, Indigo
Chicha-Rock, Latin-Wüstenrock-Crossover
Und noch ein Album aus dem Grenzbereich der USA und Mexiko. Xixa ist eine andere Schreibweise für Chicha, einer Abart der Cumbia. Und Xixa sind wiederum eine Abart des an sich fröhlichen Chicha, könnte man sagen, eine eher düstere, harte Version. Die Band kommt aus Tucson/ Arizona und hat mit Brian Lopez und Gabriel Sullivan gleich zwei Mitglieder prominenter Wüstenrock-Bands: Giant Sand und Calexico. Tatsächlich gibt es hier eine eigenartige Mixtur von Cumbia-Rhythmen mit Surf-Gitarre der Country-Musik, polternden Drums, Metal-Gitarre, den Quietsche-Sounds des Chicha, Wüstenrock und psychedelischer Musik. Wüstenrock wird hier zudem global verstanden. Der Titel „World Goes Away“ ist ein von Sadam Iyad Imarhan von der Tuareg-Band Tinariwen geschriebener, afrikanischer Desert Blues, bei dem Lopez endlich mal wieder seine wunderschöne romantische Ader ausfahren kann. Leicht orientalisch auch die Melodie danach von „Down From The Sky“, vom Sound her geht das aber in Richtung knarzig-düsterem Gothic Rock. Immer wieder gibt es klangwolkenartige Anfänge, auch wenn dann ein Cumbia den Rhythmus übernimmt. Höhepunkt ist dabei das 16-minütige „Living On The Line“ (inklusive vierminütiger Pause). Hier verlangsamt sich der Cumbia bis sozusagen der psychedelische Sandsturm aufkommt. Insgesamt setzt sich Xixa beeindruckend stark vom derzeitigen Cumbia-Hype ab und definiert so nebenbei eine neue, dunkle Richtung des Wüstenrock.
Bareto – „Impredecible“
World Village, harmonia mundi
Peru / Cumbia, Tropical
Und gleich noch mal Cumbia und wieder anders, diesmal aus Peru. Die Cumbia-Welle rollt weiter mit Cumbia Electronicá von Bareto. Viele Gitarren, die mit einer Mischung aus Flanger und Delay und quiekenden Orgeln wie eine spacige Fassung der Musik auf einem Dorffest klingen. Aber immerhin: Wer schickt bei uns schon mal alpenländische Folklore durch die Effektgeräte? Die Surf-Gitarre erinnert ebenso an die Gitarrenbands der 60er Jahre, die wohl auch die damaligen Cumbia-Bands beeinflusst hat. Darauf nimmt man Bezug und vereint das mit den Möglichkeiten von heute. Bareto versucht neue Ideen einzubringen, hier mal akustische Gitarre einzusetzen, dort eine Melodie aus der Andenfolklore oder auch mal Richtung Pop. Produzent Richard Blair von Sidestepper hat hier übrigens Hand angelegt.
Guinga & Maria João – „Mar Afora“
Acoustic Music Records, Rough Trade
Brasilien, Portugal
Auf der Innenseite der CD schaut der brasilianische Gitarrist Guinga distinguiert vor dunklem Hintergrund, gegenüber die portugiesische Jazzsängerin Maria João lachend, mit aufgerissenen Augen vor hellem Hintergrund. Passender hätte man die Unterschiedlichkeit der Charaktere der beiden nicht treffen können. Guinga ist hierzulande meist nur Fachleuten als akustischer Gitarrist bekannt, weil er es in seinem Spiel weniger auf Tempo und technische Schwierigkeiten anlegt als seine Kollegen. Er hat einen eher dezenten Anschlag, ist harmonisch versiert und seine komplexen Melodien haben ihm auch Respekt als Komponist eingebracht. Joãos Gesang dagegen ist expressiv, sie grimassiert im Grund beim Singen und zeigt so aber auch, was in den Kompositionen alles drin steckt. Für beide hat das Projekt Synergieeffekte. João kann zeigen, was in ihr und den Kompositionen steckt, Guingas Lieder bekommen eine größere Lebendigkeit. Manchmal gelingt es João, die typische brasilianische Rhythmik in dem besinnlichen Spiel Guingas regelrecht zu markieren. Gleichwohl zeigt sich Guinga auch öfters als beseelter, sanfter Sänger und João weiß auch auf die dezente Art von Guinga einzugehen ohne sie zu konterkarieren. Außerdem passt die Atmosphäre von Guingas Spiel zur Melancholie des portugiesischen Fado. Eine nicht alltägliche Begegnung.
Nelson da Rabeca, Rolf-Erik Nystrøm, Celio de Carvalho, Dona Benedita – „Bem-Ti-Vi“
Office For Transnational Arts Productions
Brasilien / Folk
Die Rabeca ist eine dreisaitige Vorläuferin der Geige. Entsprechend ursprünglich und leicht dissonant klingt das Spiel eines der letzten brasilianischen Instrumentalisten dafür, Nelson da Rabeca. Der norwegische Saxphonist Rolf-Erik Nystrøm hat den Musiker entdeckt, mit dessen Frau Dona Benedita als Sängerin und der Perkussionistin Celio de Carvalho ins Studio geholt, um Nelson für die Nachwelt zu erhalten. Kundige Ohren merken, dass aus dieser Musik des brasilianischen Nordostens Musiker wie z. B. Chico Césars zehren.
Cavalo Motor – „Makely Ka (CD)“ / „Makely Ka Ao Vivo Em Belo Horizonte (DVD)“
Eigenverlag www.makelyka.com.br
Brasilien
Aus dem trockenen brasilianischen Hinterland Sertão kommt kaum mal eine Produktion zu uns, um so überraschender nun das Projekt „Makely Ka“, welches Musik, Technik, Ökologie, Geschichte, Literatur und – Radfahren verbindet. Die Gruppe Cavalo Motor besteht aus mehreren Sängerinnen und Sängern, akustischen Gitarristen und Perkussionistinnen. Die Musik erinnert einerseits an die lyrischen Kompositionen von Milton Nascimento, wobei Hauptsänger Makely Ka, der dem Projekt den Namen gab, stimmlich wesentlich tiefer, ähnlich wie Seu Jorge anzusetzen ist. Andererseits gibt es etliche Baiãos, manchmal mit gleitendem Übergang zum Rap. Insgesamt aber hat die Musik etwas Hypnotisches. Die Texte aber beziehen sich auf den Roman „Grande Sertão“ von João Guimarães Rosa, welcher als brasilianisches Nationalepos vergleichbar mit James Joyce‘ „Ulysses“ gilt. Die Gruppe folgte nun den Stationen des Romans um einen Räuber, der es zum Großgrundbesitzer schaffte und das äußerst raue Leben im Sertão schildert. Das Ganze geschah 2012 per 1680 km langer Radtour. Dabei legte man eine (hier beigelegte) Landkarte zum Verlauf des Romans an, dokumentierte die Reise auf Film, ja sammelte sogar Essen, Gerüche, Klänge, Dialekte, um sie in ein noch größeres offenes Projekt einzubetten. Musik ist dabei das bindende Glied. Auf der Konzert-DVD kann man im Hintergrund einige der Filme wahrnehmen.
Das ambitionierte Projekt mag sich ohne Sprachkenntnisse nur oberflächlich erschließen, zeigt aber, dass mehr Kultur im Sertão steckt, als man vermuten könnte, wobei die außergewöhnliche Herangehensweise mal wieder ein Beweis für die ungeheure kreative Kraft brasilianischer Künstler ist. Und das macht neugierig.
Nicola Conte & Stefania Dipierro – „Natural“
Far Out Recordings
Samba-influenced Acid-Jazz
Nicola Conte ist ein italienischer DJ und Gitarrist, der sich bei Far Out Recordings hauptsächlich einen Namen mit seiner Kompilationsreihe „Viagem“ gemacht hat, in der er akustische Kleinode aus dem Brasilien der 1960er Jahre dem Vergessen entreißt. Mit der Sängerin Stefania Dipierro arbeitete er schon in den 1990ern in der Formation Fez zusammen. Ihr „Samba-influenced Acid-Jazz” interpretiert Kompositionen z. B. von Edu Lobo, Jorge Ben oder Caetano Veloso auf eine tanzbare und zugleich jazz-durchdrungene Art. Manchmal geht das in Richtung alter Sergio Mendes-Stücke, andererseits zeigt Stefania Dipierro aber durchaus die Coolness, die es für relaxte Bossa Novas nun mal braucht. Aufregend klingt diese Mischung insbesondere dann, wenn sie mit guten Instrumentalteilen versetzt sind wie in „Softly As In A Morning Sunrise“, das von einem fantastischen Trompetensolo gekrönt wird. In der Mitte des Albums flacht es dann etwas ab, um zum Schluss mit einigen rhythmisch anspruchsvollen Tracks wieder Fahrt aufzunehmen. Auf jeden Fall eines der besseren Alben aus dem Hause Far Out in der letzten Zeit.