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Klassiker-Alben aus Lateinamerika: Egberto Gismonti – „Dança das Cabecas“

Egberto Gismonti – Danca Das Cabecas

Unregelmäßig werden an dieser Stelle Klassiker aus der lateinamerikanischen Musikszene vorgestellt. Heute: Egberto Gismonti mit seinem Album „Dança das Cabecas“.

Egberto Gismonti – Dança Das CabecasEgberto Gismonti – „Dança das Cabecas“

ECM / 1976
Brasilien / Improvisierte Musik

Das Album „Dança das Cabecas“ erschien zwar unter dem Namen des brasilianischen Großmeisters an Gitarre und Klavier Egberto Gismonti, zum Meilenstein machte es aber auch sein Landsmann, Perkussionist und Klangzauberer Naná Vasconcelos. Es war eines der ersten Alben, die eine gänzlich andere Wahrnehmung von brasilianischer Musik ermöglichten, wobei man sich hier mit dem Begriff Jazz schwer tun musste. Beide Musiker entzogen sich einer gängigen Klassifizierung. Lediglich Baden Powell war in dieser Richtung hervorgetreten und Gismonti wirkte hier fast etwas wie sein Nachfolger. Was das Duo bot, war atemberaubend und ließ beide zur Legende werden.

Als „Dança das Cabecas“ 1976 erschien, verblüffte es durch eine beeindruckende Atmosphäre, die einer Reise in den Amazonas-Dschungel gleichkam. So etwas hatte man bis dato kaum gehört. Vogelgezwitscher, die damals noch wenig bekannten Klänge von Naná Vasconcelos‘ Berimbau, Geräusche unbekannter Insekten, die von irgendwoher kamen und wieder verschwanden, bis sich langsam eine Musik herausschält. Gismonti trumpfte hier mit seinem selbstvergessenen Spiel auf der Gitarre auf, mal sakral, mal vor sich hin suchend, dann aus dem Stand heraus furios, schnell, ja über den Gitarrenhals fetzend wie der Teufel, das Instrument auf alle erdenklichen Arten bearbeitend. Eine spieltechnische Meisterleistung, die bis heute für offene Münder sorgt. Manchmal hat man den Eindruck, er spielt die Gitarre noch dort weiter, wo sie für andere schon längst zu Ende ist.

Die Musik ist suitenartig aufgebaut, erzeugt in den ruhigeren Teilen, wenn Gismonti zu seinem Spiel mitsingt, eine Melancholie, die unwillkürlich Gänsehaut entstehen lässt. Doch dann treiben schon wieder die Bongo und die Perkussion von Naná das Stück voran, wirken wie ein platschender Wassertanz. Hat man sich zu sehr an diese hypnotische Wirkung gewöhnt, bricht sie Gismonti mit gewagten Dissonanzen, löst sich das Stück auf mit geisterhaften Stimmgeräuschen, zischenden Klängen und der Waldflöte Gismontis.

Im zweiten Teil dringt mit Gismontis Klavier-Improvisationen ein Schuss Klassik in den Urwald, fast wie einst das Grammophon auf Fitzcarraldos Schiff im Dschungel. Was hier an Filigranem, aber auch Wahnsinnsläufen und Gedonnere von Gismonti geliefert wird, hat eine Palette sozusagen zwischen Wiegenlied und Heavy Metal. Am Ende darf Naná Vasconcelos noch mal triumphieren. Er klatscht und zischt sich die Seele aus dem Leib, macht Body Percussion vom Feinsten, als ob ein ganzer Indianerstamm auf einmal aus dem Dickicht daher käme. Doch er weiß auch immer perfekt zu begleiten, holt dabei ein unglaubliches Klangarsenal hervor: A-go-gos, Schellen, Klanghölzer. Gleichzeitig zupft Gismonti die Saiten hinter dem Bund. Da erscheinen einem direkt die Dämonen des Waldes im Gewirr der Äste. Klimpernd klingt das Album aus und hinterlässt einen das Gefühl, an einer abenteuerlichen Reise teilgenommen zu haben, die man nur als „besonders irren Trip“ bezeichnen kann. Ein Album, das einen nie mehr loslässt. Und selbst das Cover ist perfekt: Wer würde noch einen ausgerissenen Lappen zum Trocknen aufhängen, wenn nicht jemand in den brasilianischen Favelas?

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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