Die passende Radioshow von DJ Hans findet ihr auf Mixcloud.
Nur noch 30-Sekunden-Songs – Das Ende der (Latin-)Klassiker?
Mein Faible für lateinamerikanische Musik begann 1969 mit Santanas „Jingo“, im Grunde der Ur-Hit des Latinrock und heute ein Klassiker. Das Stück wird von einem unvergesslichen Trommelrhythmus eingeleitet, so richtig beginnt es aber erst mit Carlos Santanas Gitarreneinsatz ab der 42. Sekunde. Heute wäre nach neuesten Erkenntnissen Santana schlecht beraten, einen Song so aufzubauen, denn nach 30 Sekunden ist jetzt gefälligst Schluss!
Dank Spotify & Co werden die kommerziell erfolgreichen Songs tendenziell immer kürzer. Spotify wertet einen Stream erst ab 30 Sekunden. Ist ein Song länger, dann gibt es nicht mehr Geld. Deshalb ist es wirtschaftlich betrachtet für Künstler besser, den Song kurz zu halten, damit er öfter gehört wird. Das gibt mehr Streams und so auch mehr Geld. Jetzt kann man sich also als Musiker*in Intros sparen, schreit am Anfang gleich, dass man die Liebste vermisst, dann kommen sofort die Melodie und der Groove für eine halbe Minute. Danach kann man heimgehen, denn es hört dann eh keiner mehr zu, oder was? Äh, sind Popmusikkonzerte deshalb demnächst auch nach fünf Minuten zu Ende? Dafür packt doch bei Santana keiner die Bongo aus!
Um diese neuen „Verwertungs“-Regeln für musikalische Arrangements scheint sich die folgende Gruppe zum Glück nicht zu kümmern. Ihre Stücke sind nie unter drei Minuten und wer nur ihren Anfang hört, weiß nicht, wie sie mittendrin klingen dürften.
Who’s the Cuban? – „Pafata“
Smash, Broken Silence
Frankreich, Kolumbien, Kuba / Latin Fusion
Vielleicht hätte sich diese Band eher „Where is the Cuban?“ nennen sollen, denn kubanische Rhythmik ist hier nur auf dezente Weise zu bemerken. Das macht ¿Who’s The Cuban? aber nicht minder interessant. Die in Frankreich gegründete Truppe mixt Elemente aus Latin, Afro, Rock und Pop mit psychedelischen Klängen. Entscheidend ist aber ihr beständig fliesender Groove. Dieser ist zwar eher sanft, lässt einen dennoch nicht los. Auf ihm bauen sich wechselnde Klangfarben in den Songs auf, wobei die Keyboard-Sounds und Bläsereinsätze prägend sind. Die stilistischen Elemente wie Latin-Rhythmen, Afrobeat oder Souskous-Gitarren sind nur subtile Momente in einem dahinschwebenden Geschehen. Die Arrangements der Gruppe um die kolumbianische Sängerin Pao Barreto sind insofern stimmig, wie hier kein stilistisches Patchwork wie bei den Mestizo-Gruppen gespielt, sondern ein einheitliches Klangbild erzeugt wird. Eigenständiger Worldpop, in dem sich mindestens drei Kontinente musikalisch wiederfinden können.
La Marisoul And Los Texmaniacs – „Corazones And Canciones“
Smithsonian Folkways Recordings, Galileo
USA / Tex Mex
Wer Tex-Mex-Musiker wie Flaco Jimenez mag, der wird auch schon von der ähnlich gearteten Band Los Texmaniacs gehört haben. Tex Mex ist eine Mischung aus mexikanischer Musik wie Rancheras, Mariachi und Boleros mit straightem Polka-Beat, der von europäischen Einwanderern in die USA mitgebracht wurde. Von diesen stammt auch das Hauptinstrument Akkordeon her, von mexikanischer Seite der Bajo-Sextos, ein sechssaitiger Bass. Inbrünstiger Gesang kombiniert mit fröhlich treibendem Rhythmus ist typisch für Tex Mex, aber auch beseelte langsame Stücke sind dabei. Die aus Los Angelos stammende Sängerin Marisol Hernández a.k.a. La Marisoul von der Gruppe La Santa Cecilia traf hier auf die texanischen Texmaniacs, um legendäre Songs aus der Tradition dieses Stils wieder aufleben zu lassen. Eine interessante Begegnung zweier Ikonen US-amerikanischer Chicanomusik. Ein ausführliches Booklet lässt tiefer in die Materie eindringen.
Pedro Rosa – „Midnight Alvorada“
Ajabu! Records
Brasilien, Spanien / MPB
Der Brasilianer ist ein hochtalentierter Komponist, Sänger und Gitarrist mit immer neuen Ideen. Auf „Mar Adentro“ generiert er einen Rhythmus wie ein drehendes Mühlenrad und erzeugt dabei durch unterschiedliche Harmonien Spannung und Entspannung. Textloser Gesang zu Melodien, die man schnell mitsummt, ja, das ist eine dieser brasilianischen Spezialitäten, die auch Pedro Rosa z. B. auf „Curió“ beherrscht. Oder das fantastische Unisonospiel von Duettgesang und Gitarre mit unerwarteten Pausen in dem äußerst lieblichen Stück „Na Rota Do Umbuzeiro“. Leichtfüßig, sanft und rhythmisch raffiniert führt der in Spanien lebende Sänger aus São Paulo den Hörer im Ablauf des Albums nach seiner Aussage durch eine ganze Nacht. Von Rosa verehrte Sängerinnen wie Mônica Salmaso und Vanessa Moreno begleiten ihn als Gäste. Eine wichtige Neuentdeckung.
Elsa Johanna Mohr ft. Flávio Nunes – „Passadinha“
Double Moon Records, Challenge Records
Deutschland, Brasilien / MPB
Man mag es kaum glauben, dass hier eine rheinländische Sängerin und Gitarristin derart authentisch brasilianische Klassiker und eigenes Material präsentiert. Elsa Johanna Mohr musiziert mit Ihrem Gitarristen Flávio Nunes voller Intensität, beseelter Stimme und perfektem Rhythmusgefühl. Die Sängerin, die auch im Trio Luah spielt, schafft eine ergreifende Stimmung, der man sich nicht entziehen kann.
Irma Ferreira – „Em Cantos De Òrìsà“
Ajabu! Records, Broken Silence
Brasilien / Candomblé
Gar nicht so einfach ist es, religiöse Gesänge des brasilianischen Candomblé in unsere heutige Zeit annehmbar zu übertragen. Der Sängerin Irma Ferreira ist das mit einfachsten Mitteln gelungen. Sie erschafft eine intensive Atmosphäre, die hypnotisch und spirituell wirkt. Auf Trommelorgien und pathetische Chorgesänge wurde zum Glück verzichtet. Manchmal hört man zu ihrem Gesang nur ein leises Dröhnen. Ergreifend.
Som Imaginário – „Banda Da Capital“
Far Out Recordings
Brasilien / Brazil Jazz
Far Out Recordings hat sich in letzter Zeit mit Spät- und Wiederveröffentlichungen von brasilianischen Jazzalben der 1970er Jahre hervorgetan. Ähnlich wie der Tropicalismo in der brasilianischen Popmusik gab es gegenüber der damaligen Militärdiktatur eine Gegenkultur im Jazz, die sich durch Experimentierfreude und Überwindung musikalischer Grenzen auszeichnete. Ihre Qualität wurde lange unterschätzt, da die Kombination Jazz und Brasilien damals stark von der Bossa Nova belegt war oder bekannte Musiker auswanderten. Von denen, die blieben, sind viele Werke in Brasilien erfolglos geblieben oder erst jetzt der Öffentlichkeit bekannt geworden, so auch das der Gruppe Som Imaginário. Ihr Album Banda Da Capital wirkt unfertig oder zusammengeworfen. Es ist aber ein Zeitzeugnis über die Aufbruchsstimmung in Jazzszene des Landes Anfang der 1970er Jahre. Die offene Formation bestand aus Musikern im Umfeld von Milton Nascimentos Clube Da Esquina-Bewegung. Der bekannteste hier Beteiligte dürfte Keyboarder Wagner Tiso sein. Zu Som Imaginário gehörten von 1970-73 aber auch Musiker wie Laudir de Oliveira, Nana Vasconcelos, Robertinho Silva oder Toninho Horta. Das Album ist ein Zusammenschnitt von Jamsessions, Einspielungen einzelner Mitglieder und Liveaufnahmen, stilistisch daher uneinheitlich. Progressive Rock, Folk, Psychedelia, Jazz und traditionelle brasilianische Rhythmen treffen hier entweder aufeinander oder stehen nebeneinander. Einige Highlights wie „Os Cafezais Sem Fim“, eine sphärische Jazzimprovisation zwischen Verträumtheit und Tanzrhythmen und geprägt von Querflöte, Keyboards und Drums zeigen das Potential der Musiker.
Domenico Lancellotti – „Sramba“
Mais Um
Brasilien / Modern Samba
Der innovative Geist der 1970er Jahre ist in Brasilien nach wie vor ungebrochen. „Tom Zé (experimenteller Tropicalist), Faust (deutsche Krautrocklegende) und João Gilberto (Bossa Nova-Ikone) kollidieren in Domenico Lancellottis Maschinen-Samba“, heißt es im Promo zu diesem Album. Es zirpt und loopt, klappert und macht weitere merkwürdige Sounds, die an selbstgebasteltes Equipment erinnern, aber es ist Samba. Nachdem man sich etwas in die merkwürdige Melange von Samba und experimentellen Sounds eingehört hat, kann man durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass die obige Einschätzung stimmt. In Brasilien gibt es einen beeindruckenden Underground, der die Traditionen aufnimmt, aber immer wieder etwas Neues ausprobiert und dabei auch mal radikal vorgeht. Brasilien ist popmusikalisch ein avantgardistisches Pflaster, das eher dem Rest der Welt etwas vormacht als umgekehrt. Musiker*innen wie Lucas Santtana, Arto Lindsay oder Cibelle, um nur einige zu nennen, sie alle gingen unausgetretene Wege und eröffneten Klanglabore. Domenico Lancellotti reiht sich in diese Szene ein. Zwischen Gitarren- und Percussion-geführten Rhythmen und russischen Analog-Synthesizern eröffnet er eine Spielwiese für einen futuristischen Samba. Sanfte Klangwolken und talentierte Balladen sind aber nicht ausgeschlossen. Hier hört man innovative elektronische Sounds im Hintergrund, die die Stücke zu etwas Besonderem machen und eine melancholische Atmosphäre erzeugen. Am besten gelungen ist das in dem geisterhaften „Descomunal“. Ein geniales Arrangement zwischen schlafwandlerischem Gesang, Science-Fiction-Geräuschen und Celloklängen.
Steen Rasmussen & Josefine Cronholm – „Milton In Swedish / Milton på svenska“
Stunt Rec, inakustik, The Orchard
Dänemark, Schweden / Brazil-Jazz
Milton Nascimento ist einer der sanftesten und poetischsten Sänger Brasiliens, der zudem mit seinem textlosen Unisono-Gesang viele Jazzer inspirierte. Nun haben der dänische Pianist, Komponist und Arrangeur Steen Rasmussen und die schwedische Sängerin Josefine Cronholm Nascimentos Musik und Texte in schwedischen Jazz transformiert. Das Sanfte und Sphärische seiner Musik wird mit der Tradition nordischer Musik zwischen Folk und Jazz erfasst. Für Nascimentos zum Falsett neigende männliche Stimme eine Sängerin einzusetzen, ist eine sinnvolle Entscheidung, die zusammen mit den schwedischen Texten hier ein eigenes Werk entstehen lässt. Das Album wirkt jazziger als Nascimentos Musik, auch der textlose Gesang gerät eher zum Scatting. Aber die engelhafte Sphäre Nascimentos wird hier nicht angestrebt. An der Beseeltheit seines Gesangs sollte man sich auch nicht messen.
Nanny Assis – „Rovanio“
In+Out Records, Edel Music
Brasilien, USA / Bossa Nova, Jazz
Schon vierzig Jahre dauert die Karriere des in Bahia geborenen Sängers, Perkussionisten und Gitarristen Nanny Assis, der bei uns kaum bekannt ist. Sein Album wirkt etwas nach einer Wiederbelebung der Streicher-Arrangements von Claus Ogerman mit Antônio Carlos Jobim Mitte der 1960er Jahre. Das schwungvolle und von Perkussion getriebene „Amor Omisso“ wirkt kraftvoll und verzeichnet sogar einige Spoken Words in Arabisch. Und wenn schon verträumt, dann so wie im ruhigen „Proponho“ mit Sängerin Janis Siegel. Genau diese Schlichtheit fehlt den anderen Arrangements meistens. Da irrt die Musik etwas ziellos vor sich hin und auch prominente Gäste wie Randy Brecker und Ron Carter ändern das nicht.
Samuel Blaser – „Routes“
Enya, Yellowbird
Schweiz/ Ska, Jazz
Das Album des Schweizer Posaunisten Samuel Blaser ist eine Hommage an den legendären Ska-Posaunisten Don Drummond, dessen umwerfende Melodik nicht nur die Art des Posaunenspiels im Reggae bis heute prägt. Von Drummond und seiner Band The Skatalites ging über den Rocksteady die Entwicklung des Reggaes aus. Ihn zu würdigen ist keine leichte Aufgabe, denn es sollte mehr herauskommen, als Drummonds Originale in besserer Aufnahmequalität nachzuspielen. Dazu hat sich Blaser einiges einfallen lassen. Einmal entging er der Gefahr, ein reines Ska-Album aufzunehmen, indem er eigene, nicht nur von Ska getriebene Kompositionen spielt, die den Jazzcharakter der hier versammelten Musiker betonen. Auch der Einsatz der Lovers-Rock-Sängerin Caroll Thompson bringt etwas Entspannung im normalerweise flotten Ska-Tempo. Des Weiteren legte Lee Scratch Perry bei zwei Titeln mit soften Dub-Versionen Hand an. Umgekehrt würdigt Blaser Drummond umso intensiver in einem seiner bekanntesten Stücke „Green Island“ mit gleich sechs Posaunisten, darunter Koryphäen wie Steve Turre und Glenn Ferris. Heraus kam ein Album, das Ska- und Jazz-Fans gleich gut gefallen könnte, denn es wirft die Idee auf, was Don Drummond noch hätte spielen können, wenn er, der nie aus Jamaika herauskam, mehr Kontakte zu stilistisch anderen Kollegen gehabt hätte. Ein ambitioniertes Album, das sich von Konzepten jazzlastiger Ska-Bands wie Jazz Jamaica oder den Skatalites absetzt.
The Cuban Orchestra – „Renacimiento“
59music
Kuba / Kubanische Salonmusik
Das hatten wir noch nicht: Ein wiederbelebtes kubanisches Salonorchester wie aus dem 19. Jahrhundert mit in Kuba ausgebildeten Musikern, die in Mitteleuropa leben. Gespielt wird das Repertoire kubanischer Tänze inklusive einiger Klassiker wie „La Paloma“ oder „Cherry Pink And Apple Blossom White“. Man bemühte sich um einen authentischen Sound und nahm das Album deshalb in einem Schloss in Grafenau auf. Das mag musikhistorisch interessant sein, geht aber auf Kosten einer gleichmäßigen Abmischung. So ist die Guiro (Flaschenratsche) etwas zu dominant zu hören, dafür brilliert Sängerin Johana Jo Jones. Insgesamt wirkt kubanische Musik hier gediegener, aber so war es wohl gedacht. Deshalb muss man sich etwas einhören. Ursprüngliche kubanische Musik der anderen Art.
Abschiede
Harry Belafonte
Mit stolzen 96 Jahren starb Belafonte am 25.04.2023 in New York City. Ihn auf den „King of Calypso“ zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht, zumal seine alten Hits inzwischen etwas antiquiert wirken und den aktuellen Calypso nicht mehr repräsentieren. Vielmehr sollte man ihn in Erinnerung behalten als einen Afroamerikaner, der es auf beispiellose Weise schaffte, aus dem „Schwarzen-Ghetto“ Harlem kommend gleichzeitig eine erfolgreiche Schauspieler-, Musiker- und Fernsehkarriere zu starten und sich Jahrzehnte zu halten. Und nicht nur das. In seiner TV-Show überwand er die Rassentrennung, machte Künstler wie Bob Dylan und Miriam Makeba mit bekannt. Politisch und sozial wurde er zum Vorzeigeaktivisten, kaum ein Thema, dem er sich nicht annahm. Musikalisch war er wesentlich vielseitiger als sein Calypso-Image, zählte vielmehr zu den größten amerikanischen Entertainern. Neuen Entwicklungen wie Hip Hop stand er übrigens ausdrücklich positiv gegenüber.
Rita Lee Jones
Die brasilianische Sängerin, Komponistin und Instrumentalistin starb 75-jährig am 08.05.2023 in São Paulo an Lungenkrebs. Sie war Brasiliens Rocklady Nr. 1 und hat auch Tropicália-Geschichte mitgeschrieben als Mitgründerin der Band Os Mutantes. Diese Band begleitete z. B. Caetano Veloso bei seinen Skandalkonzerten in den 1960ern und war die Inkarnation des Einflusses der Beat- und Rockmusik auf Brasilien. 1972 begann sie eine Solokarriere, die ihr einen legendären Ruf einbrachte, vergleichbar in etwa mit Nina Hagen bei uns. Interessant: Anlässlich ihres Todes wurde sie jetzt sogar von Brasiliens Präsident Lula da Silva gewürdigt.
Ivan „Mamão“ Conti
Einer der drei Gründungsmitglieder der brasilianischen Sambajazzband Azymuth ist am 18.04.2023 im Alter von 76 Jahren und fatalerweise im 50. Jahr des Bestehens der Band gestorben. Er galt als einer der bekanntesten Drummer Brasiliens. Azymuth war die Band, die den Sound des englischen Labels Far Out Recordings am entscheidendsten beeinflusst hat. Ein herber Schlag, denn vor ein paar Jahren verstarb erst der Keyboarder des Trios, welches Jahrzehnte populär blieb.