In der neuen Ausgabe der Latin Music News finden sich heute Neuerscheinungen aus Peru, Kolumbien, Brasilien, Chile, Deutschland und Haiti.
Sociedade Recreativa – „Sociedade Recreativa“
Jarring Effects, Broken Silence
Brasilien, Frankreich / Electro-Forró
Hurra, ein neues Genre! Wie hieß das letzte denn gleich? Digital Cumbia? Auch schon vorbei. Jetzt ist Electro-Forró an der Reihe. Nun, immerhin muss man DJ und Produzent Maga Bo, der sich hier mit der franko-brasilianischen Gruppe „Forró de Rebeca“ zusammengetan hat, bescheinigen, dass er ein außergewöhnlich respektvolles Beispiel für die Modernisierung traditioneller Musik hin zur Tanzbarkeit auf den hiesigen Dancefloors abgeliefert hat. Das Ergebnis klingt eigentlich kaum nach elektronischen Zusätzen. Die wahrnehmbaren Effekte wie Hall und Echo kommen spärlich vor. Es sind vielmehr der Bass-Beat, ein paar geloopte Instrumente, einige sirrende Sounds. Ansonsten hört man hier Musik des brasilianischen Nordostens mit Gesang, Akkordeon, Flöten, der Rabeca-Geige, Trommeln, Triangel und Pandeiro. Weniger hektisch als der authentische Forró, dafür rhythmisch perfekt auf den Punkt gebracht. Die bekannte Sängerin Flavia Coelho bringt sich zudem noch mit einem zungenbrecherischem Rap ein. Gelungene Verbindung von Tradition und Moderne.
Ana Tijoux – „Vengo“
Flowfish Records, Broken Silence
Chile / Latin Hip Hop
Apropos Rap. Als Rapperin ist Ana Tijoux schon länger international erfolgreich, nun besann sie sich auf “Vengo” ihrer chilenischen Heimat und baute eine Menge Klänge von Instrumenten der lateinamerikanischen Folklore oder Dschungelgeräusche ein. Braver Anden-Panflöten-Folk und Hip Hop, passt das zusammen? Nun, im Grunde kann man aus jedweder Musik Loops generieren und dazu rappen, letztlich macht es der Gesamteindruck. Tijoux mischt die Samples mit Bläsersätzen und Gesangsparts, schlägt manchmal gar in Pop um. Schwere Beats treffen auf die Leichtigkeit der Folk-Klänge. So wird man nicht von den zumeist aggressiven Gesten des Hip Hop erschlagen. Zum Abschluss gibt’s gar einen Reggae.
Emicida – „About Kids, Hips, Nightnares and Homework…“
Sterns Brasil
Brasilien / Hip Hop
Auch beim brasilianischen Rapper Emicida merkt man: Der Hip Hop in Lateinamerika ist differenzierter. Der Gestus des dortigen Rap tendiert eben nicht wie so oft zum Vorhersehbaren. Bereits im Opener meint man, sich eher in ein Album von Sergio Mendes & Brazil 66 verirrt zu haben. Der Satzgesang klingt verdächtig danach. Insgesamt findet hier keine scharfe Trennung zwischen Gesang, Rap und Spoken Word statt, auch sanftere Töne oder ein Reggae sind möglich. Die Produktion glänzt mit Einfallsreichtum, vor allem ungewöhnliche Sounds als Samples. Altstars der Sechziger dürften in unserer Hip Hop-Szene zumeist als alte Säcke und naive One World-Idealisten gelten. Hier taucht dagegen der legendäre Caetano Veloso als Gastsänger auf. Der Samba –Funk-Titel „Salve Black ‚Estilo Livre‘“ könnte zudem auch die Rap-Fassung einer Jorge Ben-Nummer sein. Aber es ist auch ein Album, das sich auf die Wurzeln der brasilianischen Kultur in Afrika besinnt. Etliche Aufnahmen entstanden auf den Kap Verden und Angola bzw. spielen dortige Musiker mit. Die Texte sind übrigens in englischer Übersetzung beigelegt. Besonders eindrucksvoll der des Hidden Tracks, ein Lob der brasilianischen Arbeiter und eine Aufforderung, sich nicht als Sklave zu betrachten. Völlig expressiv als Gedicht vorgetragen von Marcelino Freire.
„Rough Guide To Peru Rare Grooves“
(Verschiedene Künstler)
Worldmusic Network, harmonia mundi
Peru / 1960er
Peru stand zuletzt im Mittelpunkt des musikalischen Interesses insbesondere wegen der Chicha-Musik der sechziger Jahre. Doch gräbt man tiefer, offenbaren sich aus dieser Zeit Gruppen anderer Stilrichtungen, die nicht weniger interessant waren. Vertreten sind auf dem Rough Guide alle möglichen Stilrichtungen wie Mambo, Merengue, Salsa, Descarga, Boogaloo u. v. m., also der eher kubanischen Stile. Auch hierbei ist der Einfluss von Rockmusik, insbesondere der gitarrenlastigen Instrumentalbands der Sechziger, speziell der britischen, unüberhörbar. Diese Mixtur nannte man Música Tropical Bailable. Umgekehrt stammen auch einige Salsa-Klassiker aus der Feder peruanischer Komponisten. Imponierend sind bei den Aufnahmen oftmals die Perkussionisten. Der von Los Compadres Del Ande gibt in zwei Minuten alles. Gegen Ende der Sechziger ist dann auch die Fuzzgitarre zu hören und bei Los Blacanguay fragt man sich bei deren Gekichere und Geschrei, was für Zeug hier geraucht wurde. Insgesamt alles heiße Nummern.
Systema Solar – „Rumbo À Tierra“
Flowfish Records, Broken Silence
Kolumbien / Latin Elektro Fusion
50 Jahre später gibt es andere Mixturen von Latin und internationalen Stilmitteln. Jetzt sind es Breakbeats, Disco, Loops, Scratching und vieles mehr, die die Latin Music aufmischen, so wie beim kolumbianischen Projekt Systema Solar. Im Stil der jamaikanischen Soundsystems wurden sie zu den Pionieren der so genannten Latin Elektro Fusion. Ihre musikalischen Traditionen stecken in Stilen wie Cumbia, Fadango oder Bullerengue und wie viele kolumbianische Gruppen eifern sie aber nicht blind irgendwelchen Reggaeton-Moden nach, sondern glänzen durch Individualität, eingängige Melodik und unbändige Energie. Typisch sind der fröhliche, vielstimmige Gesang, programmierte Rhythmen, an afrikanischen Souskous erinnernde Gitarren und hochenergetische, exaltierte Sänger, die manchmal richtig komisch rüberkommen. So durchgeknallt wie ihr Bandfoto, so wirkt die Band auch musikalisch. Beeindruckend ist das oft treibende Tempo mit rasenden Trommelwirbeln und manchmal klingt die Musik gar wie eine Mischung aus indischer Bhangra-Musik und Fußballfan-Gesängen. Der Scratcher gibt sein Bestes, auf „Aguazero“ klingt das wie eine indische Micky Maus. Adrenalin pur auch bei der Mischung aus Rap und Zouk auf „Mi Caribe“. Geht insgesamt gut ins Ohr und dürfte den Letzten aufs Parkett holen. Damit dürfte jede Sommerparty gerettet sein.
Marisa Monte – „Coleção“
Phonomotor Records, EMI, Universal
Brasilien / MPB
Zur Ruhe kann man dann wieder mit Marisa Monte kommen. Von den großen brasilianischen Stars hört man in letzter Zeit promotionmäßig ja relativ wenig. Ihr neues Album ist da schon eine Ausnahme. In Brasilien ist die Mitklatsch- und Dumpfbackenmusik genauso auf dem Vormarsch wie bei uns und da wird die Musik von Monte inzwischen wohl schon als „Kunstmusik“ angesehen und so etwas vermarktet sich in Europa für Weltmusikliebhaber immer ganz gut. „Coleção“ ist eine merkwürdige Kompilation: Oberflächlich betrachtet handelt es sich um eine Resteverwertung, eine Zusammenstellung von unveröffentlichten Tracks für Filmmusiken, Kompilationen, Live-Aufnahmen, Duett-Projekte, Album-Outtakes. Doch trotz der heterogenen Mischung passen die Stücke gut zusammen, weil Monte einen unverwechselbaren Stil hat. Vor allem singt sie wie ein weiblicher Crooner: manchmal erwartet man fast einen leisen Stöhner. Ja, sie hat Schmelz in der Stimme und klingt völlig unangestrengt. Das zweite Element ist die Instrumentierung, die vornehmlich akustisch ist: Ukulele, Gitarren, Glockenspiel, Streicher – das Repertoire für Wohlfühlmelodien zum Sonnenuntergang. Von ihren betörenden Melodien gibt es immer wieder einige, die man für die Ewigkeit notieren könnte, wie das perlende „Cama“, das vom Klang eines sanften Cavaquinho lebt. Auch ihr „A Primeira Pedra“ ist zum Niederknien. Einen solchen Sound suche man mal im deutschen Schlager, eigentlich dem Pendant zur brasilianischen MPB vom Stellenwert her. So eine sensible Musik ist bei uns ausgerottet. Des Weiteren vergisst Monte nie die brasilianischen Wurzeln, singt zusammen mit Sambista Paulinho da Viola. Und sie vergisst nicht, wo es ähnliche portugiesischsprachige Musik gibt. So hört man sie im Duett mit der kapverdischen Legende Cesária Évora oder der Fado-Sängerin Carminho. Auch dabei sind z. B. Weggenosse Arnaldo Antunes sowie der argentinische Soundtüftler Gustavo Santaolalla wie auch Mastermind David Byrne. Insgesamt also weitaus mehr als Resteverwertung.
Clara Moreno – „Samba Esquema Novo (De Novo)“
Far Out Recordings
Brasilien / Brazil Samba, Bossa-Jazz
Kenner der brasilianischen Musikgeschichte werden beim Titel von Clara Morenos neuem Album stutzen, denn „Samba Esquema Novo“ hieß das legendäre Album von Jorge Ben aus dem Jahr 1963, auf dem sich der noch legendärere Titel „Mas Que Nada“ in seiner Urfassung befindet. Und genau dieser macht auch den Opener, wobei man erneut etwas stutzen könnte. Das Tempo ist wesentlich verschleppter, es gibt unterschiedliche Tempi, es klingt mehr nach Jazz denn nach Samba. Einige Dub-Echos sind eingebaut. Morenos Phrasierung ist sehr verspielt und die Besetzung jazzig: Klavier, Bass, Drums und die Posaune von Arrangeur Paulo Malheiros, der bald zu einem seiner schönen Soli loslegt. Tja, warum nicht mal eine ausdrückliche Jazz-Version, sagt man sich da. Moreno hat sich allerdings das vollständige Album von damals auf diese Weise vorgenommen. Ein interessantes Experiment, das als Jazzalbum mehr beeindruckt denn als Brasilien-Album.
„The Rough Guide To Brazilian Jazz“
(Verschiedene Künstler)
Worldmusic Network, Rough Trade
Brasilien / Brazilian Jazz
Die Zeit, als brasilianischer Jazz mit Bossa Nova Jazz identisch war, ist in Brasilien schon lange vorbei und wer die heutige Jazzgeneration in Brasilien an Legenden wie Egberto Gismonti, Hermeto Pascoal oder Airto misst, liegt hier völlig falsch. Gruppen wie Iconili, Nomade Orchestra. Höröya und Bixiga 70 beziehen sich auf die zeitgenössischen Grooves und sind eher von Afro Beat oder Neo Funk beeinflusst ist als von Jazzrock. Eine Tendenz, die man erkennen kann, ist die Kombination von Bläsergruppen mit Rhythmusgruppen. Die Rhythmen kommen dabei nicht nur aus Brasilien, sie können auch kubanisch sein, nordamerikanisch oder afrikanisch. Die Bläser bedienen sich einfacher Melodien mit viel Wiederholungen und kurzen, eingestreuten Improvisationen. Man sucht eher den interessanten, tanzbaren Groove anstatt sich mit seinem Instrument expressiv ausdrücken zu wollen. Anstelle von Improvisation gibt es mal einen Dubeffekt, vor allem zählt der Ensemblesound. Für den gestanden Jazzer klingt das (mit Ausnahmen wie Space Charanga) jedoch langweilig und einfallslos. Auch wenn die Kompilation nicht repräsentativ sein muss, sie zeigt eine Tendenz auf: In Brasiliens Jazzszene ist man derzeit weit davon entfernt, große internationale Legenden zu liefern. Man orientiert sich vielmehr an neuen multistilistischen Bandtypen wie Quantic oder Antibalas.
Und dann gibt es noch die Gesangstiteln. Beim generell hohen Niveau vieler brasilianischer SängerInnen existiert jedoch kaum eine Trennungslinie zwischen MPB und Vokaljazz. Das blendet diese Kompilation aus. Das große Verdienst der Rough Guide-Reihe ist, neue Entwicklungen mit bislang unbekannten Musikern aus entlegenen Winkeln der Erde vorzustellen, ferner Verblüffendes, Vergangenes, dem Kennerauge bislang verborgen Gebliebenes. Manchmal wird aber auch einiges unter dem jeweiligen Motto aufgeführt, was nicht unbedingt dazu passt. So fragt man sich, was die eher poppige Tulipa auf dem Album zu suchen hat.
Mi Solar – „Tiempo Libre“
Galileo mc
Deutschland / Salsa
Die Berliner Gruppe Mi Solar weiß scheinbar, wie man Salsa zeitgemäß variiert ohne den Grundcharakter der Musik verändern. Da werden Timba, Funk, Hip Hop, Rock-Riffs und Reggae beigemischt und man singt auf Spanisch, Englisch und Deutsch. Letzteres beim Titel „Berlin City“, bei dem zudem noch der Boogaloo-Klassiker „I Like It Like That“ von Pete Rodriguez und der Neo Soul-Hit „Happy“ von Pharell Williams zitiert werden. Allein dies zeigt schon, dass hier eine Latin Band am Werk ist, die ein bisschen mehr will als nur die Mindesterwartungen zu erfüllen. Genau diese Vielfalt hatten auch die frühen Salsa-Bands von Fania vor 40 Jahren, was heute oft vergessen wird.
Christina Pluhar – „Orfeo Chamán“
Erato, Rough Trade (CD + DVD)
Latin, Oper
Die österreichische Harfenistin Christina Pluhar schuf für die Oper von Bogotá ein Projekt mit Gesang, Tanz und Schauspiel zur Orpheus-Sage. Sie verwebt dabei Klassik, Nueva Cancion und südamerikanische Folklore, griechisches Epos und lateinamerikanische Mythologie. Auf DVD gewinnt das Projekt erst.
„12 Voices Of Haiti“
(Verschiedene Künstler)
TiCorn Music
Haiti
Zwölf in Europa lebende, aber mit Haiti verwurzelte Musiker stellen sich hier auf Initiative der deutschen Musikerin Cornelia Schütt alias TiCorn vor, die sich der Musik Haitis verschrieben hat. Es ist eine zumeist sehr afrikanisch wirkende, aber vergleichsweise sanfte, balladeske Musik mit Bezügen zu R’n’B, Chanson und manchmal von Chören untermalt. Dazu die haitianischen Rhythmen und Einflüsse französischer und kreolischer Kultur. Besonders angenehm dabei der Sänger Beethova Obas.