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Seltsam. Kaum sinken die Corona-Inzidenzwerte, steigt der Input an Neuveröffentlichungen lateinamerikanischer Musik wieder deutlich an. Ob es da einen Zusammenhang gibt, bleibt dahingestellt.
Conexión Cubana – „Herencia de Fé“
Connector Records, in-akustik
Kuba / Son
Eine der bekanntesten kubanischen Bands, Conexión Cubana, ist jedenfalls wohlgemut und glaubt auf ihrem Titel „Lo Bueno Vuelve“ von ihrem Album „Herencia de Fé“ – Erbe des Glaubens, dass das Gute nach der Pandemie zurückkehrt. Das Werk ist ein Bekenntnis zur kubanischen Musiktradition und ihrer Verwurzelung in den verschiedenen Religionen Kubas. Zwar kann man darüber streiten, was typisch kubanische Musik ist, auf die Alben dieser Band wird man sich dabei am ehesten einigen können. Die traditionelle Perkussion und der Klang der Tres-Gitarre kommen gut zur Geltung, letztere besonders im Titel „El Platanal De Bartolo“. Die Melodien bleiben gut hängen, insbesondere „Ay, Ay, Ay“ geht einem nicht mehr aus dem Ohr. Als Gastsänger ist der jahrzehntelange Sänger von Los Van Van, Pedrito Calvo, dabei. Und von diesem gibt es gleich noch ein Soloalbum.
Pedrito Calvo – „El Cantante“
Connector Records
Kuba / Son
Pedrito Calvos „El Cantante“ ist ein bisschen anders angelegt. Der Opener „El Fulo“ mit einem hypnotischen Groove, Calvos Sprechgesang und eingängigem Chor könnte aus einem Album der amerikanischen Band WAR stammen. Die Perkussion dominiert in „Se Acabó el Querer“. In beiden Titeln sind inspirierte Querflötensoli von Raul Bonet zu hören und Calvo hat die Stücke auch komponiert. Der inzwischen fast 80 Jahre alte Sänger ist eine lebende Legende und zeigt hier noch mal sein ganzes Können.
Mit Conexión Cubana und Pedrito Calvo weiß man, was man hat. Ansonsten stehen diesmal relativ viele, für lateinamerikanische Musik stilistisch untypische Veröffentlichungen im Fokus. Und dabei bleiben wir zunächst in Kuba.
Alejandro Valdés y Palo de Agua – „Calles del Olvido“
Clasicós Latino, Naxos
Kuba / Flamenco
Das Stichwort Flamenco dürfte für die meisten nicht unbedingt im Zusammenhang mit Kuba stehen. Fachleute werden allerdings schnell darauf hinweisen, dass es den Flamenco auf Kuba schon über mehrere Generationen gibt, er allerdings international außer vielleicht in Spanien weitgehend unbeachtet blieb. Gitarrist Alejandro Valdés zeigt auf „Calles del Olvido“ zumindest, dass auf Kuba nicht nur „auch Flamenco gespielt wird“. Vielmehr existiert hier ein äußerst beachtenswertes Talent, das mit seiner Gruppe Palo de Agua innovative Wege beschreitet. Das fängt schon beim Instrumentarium an. Da taucht ein keltisch klingender Dudelsack auf, eine Violine und man hört sogar den Einsatz eines Tänzers. Insbesondere der Geiger mit dem schönen Namen Luis Armando Pérez Basterrechea gibt dem Album den entscheidenden Dreh. Mühelos wechselt er von jazzigem Swingspiel zu Einlagen aus dem Repertoire der Minimal Music. Das Stück „Vengo“ besticht durch mehrere Tempiwechsel und suiteartigen Aufbau. Fast schon poppig danach „Parte de mí“ mit eingängigem Gesang. In „Te dejé de querer“ hört man sogar ein Tanzschrittsolo, welches langsam von den Mitspielern in immer rasanterem Tempo aufgenommen wird. Eigentlich eine akustische Rarität. In „Rumba pa ti“ merkt man den kubanischen Background am vermehrten Perkussionseinsatz, der Valdes zu Höchstform antreibt. Insgesamt ein sehr zeitgemäßes Album, welches sich hinter der spanischen Flamenco-Szene keineswegs zu verstecken braucht.
Noslen Noel – „Con Sentimiento“
Clasicós Latino, Naxos
Kuba / Lautenmusik, Son u. a.
Gleichfalls werden die wenigsten wissen, dass es auf Kuba Lautenwettbewerbe gibt, von denen Noslen Noel schon mit 15 Jahren den wichtigsten gewonnen hat. Dass derart ungewöhnliche kubanische Musik (wie auch die von Alejandro Valdés) hierzulande bekannt wird, ist dem Label Clasicós Latino von Memo Rhein zu verdanken, welches sich auf lateinamerikanische Musik abseits üblicher Erwartungen und gängiger Genres spezialisiert hat und voller Überraschungen steckt. Als Lautenmusik hat man Stücke aus dem Repertoire des Buena Vista Social Clubs wahrscheinlich noch nicht gehört. Auch Noel arbeitet auf „Con Sentimiento“ mit einer Begleitgruppe und versteht genauso einzuheizen, als wenn Bläser dabei wären. Die Besetzung beinhaltet neben der Laute vor allem Klarinette, Perkussion, Gesang und andere Saiteninstrumente. Während Lautenmusik bei uns eher klassisch geprägt ist und meist besinnlich wirkt, swingt es hier voller fröhlich-schmeichlerischer Melodik.
João Donato, Adrian Younge, Ali Shaheed Muhammad – „Jazz Is Dead 7“
!k7, Indigo
Brasilien, USA / Brazil Jazz
Mit großem Aufwand versuchen die beiden amerikanischen Musiker Adrian Younge und Ali Shaheed Muhammad seit einiger Zeit ihre Reihe „Jazz Is Dead“ zu etablieren. Dabei holen sie oft Altstars des brasilianischen Jazz zu sich ins Studio. Es sind eher Jam-Sessions als neue Stücke und nach Marcos Valle und Azymuth hat man nun João Donato eingeladen. Es sind also brasilianische Musiker, die zumeist außerhalb Brasiliens Karriere gemacht hatten und danach in Brasilien in Vergessenheit gerieten, aber in gewissen Abständen wiederentdeckt werden und einen legendären Ruf haben. Zum Erfolg der Reihe beitragen sollen Merchandising in allen Variationen, Testpressungen und CDs sowie, dass auf dezente R&B-Elemente und Lounge-Kompatibilität geachtet wird. Nun ist gegen eine Reanimierung verdienter Altstars des brasilianischen Jazz für eine jüngere Generation nichts zu sagen und Donato wird gegen derartige Ehrerbietung keinesfalls etwas haben können. Der Eindruck, den die letzte Veröffentlichung der Reihe mit Azymuth hinterlassen hat, setzt sich hier allerdings fort. Das Album plätschert unaufgeregt wie Hintergrundmusik in der Hotelbar vor sich hin. Man hat sich getroffen und ein bisschen zusammengespielt, aber dabei wird nichts von Donatos bisherigen Alben in den Schatten gestellt. Donato war immerhin ein Innovator in der brasilianischen Musik, der von Kollegen wie Gilberto Gil für seine Arrangements bewundert wird. Hier hat man eher das Gefühl, dass das Flötenspiel wesentlich dominanter und auch interessanter ist als Donatos Keyboardarbeit. Allerdings muss man sagen, dass gerade dieser unaufdringliche, totale Laid-back-Sound mit 70er-Jahre-Retro-Touch der genannten brasilianischen Jazzer seit einiger Zeit angesagt ist. Offensichtlich gibt es ein beständiges Publikum für derartige Jazzmusik. Scheinbar wollen die verantwortlichen Musiker diesem Publikum aber verschweigen, dass es sich um Jazz handelt, sonst würde man die Reihe nicht „Jazz Is Dead“ nennen. Es könnte ja abschrecken. Das Beste kommt allerdings hier zum Schluss mit „Conexão“ mit etwas mehr Tempo. Ein vergleichsweise hypnotischer und funky Titel. Er ist im Sound der 1970er und speziell dieses Stück lehnt sich an Les McCanns Phase an, aus der seine Alben „Invitation to Openness“ oder „The Lovers“ stammen, erreicht aber bei weitem nicht dessen Groove-Qualität.
Amaro Freitas – „Sankofa“
Far Out Recordings
Brasilien / Jazz
Der brasilianische, aus Recife stammende Pianist Amaro Freitas zeigt mit seinem Trio auf „Sankofa“, dass er fernab von rhythmisch-klanglichen Erwartungen aufgrund seiner Abstammung eine eigene Formsprache gefunden hat. Typisch für ihn ist, dass er mit einer einfachen Melodie beginnt, diese mehrfach wiederholt, sie dabei variiert und zudem rhythmisch, in der Taktart und im Tempo verändert. Dies grenzt häufig an Minimal Music, klingt aber genauso nach Klassik oder Jazz. Die Melodien spielt Freitas zudem mit sehr hohen Noten. Seine Variationen können ins freie Spiel ausufern, dann beruhigen sie sich wieder oder werden jazziger. Freitas sucht teilweise ähnlich wie Keith Jarrett aus der Wiederholung das Stück zu entwickeln, was atmosphärisch unterschiedlich ausgehen kann. Der Titel des Albums „Sankofa“ bezieht sich auf ein Symbol der Adinkra, das einen nach hinten gerichteten Vogel darstellt. Adinkra ist eine aus Ghana stammende Bildersprache. Freitas nutzt diesen zurückschauenden Vogel als Konzept für einen Bezug seiner Musik zu uralten afro-brasilianischen Mythen. So ist der Titel „Cazumbá“ nach einem mythischen Stier aus der tropischen Region Maranhão benannt, der die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen repräsentiert. Ein Jazz-Rock-Puls vermittelt einen lauten städtischen Stadthafen, aus dem heraus man akustisch in die Geräuschewelt des Regenwaldes geführt wird.
Vasconcelos Sentimento – „Furto“
Far Out Recordings
Brasilien / Jazz
Nicht minder eigenwillig präsentiert sich mit Vasconcelos Sentimento ein weiterer brasilianischer Jazzer. Seine Mixtur auf „Furto“ ist schwer einzuordnen: experimentelle Filmmusik, mysteriöse Geräuschcollagen, Sessions, psychedelischer Cool Jazz, Ambient – mit einem Wort unkalkulierbar und voller eigentümlicher Atmosphäre. In „Burkina“ vermischen sich z. B. dahinplätschernde Piano- und Saxofonklänge mit elektronischen Geräuschen, die auch von einem Vogelschwarm stammen könnten. Sentimento lebt in Rio und ist autodidaktischer Komponist, Produzent, Multiinstrumentalist (Tasteninstrumente, Synthesizer, Schlagzeug, Perkussion, Saxofon, Gesang) und ein beeindruckender Klangforscher mit Wurzeln im Tropicalismo. Derartige Sounds hat man zuletzt vielleicht auf exotischen Alben in den Siebzigern hören können. Auf „Atraso Granular“ erzeugt er wunderbar flirrende Sounds durch die Verwebung einer Klavierimprovisation mit unterschiedlichsten Synthesizerklängen. Immer wieder werden dabei leichte Geschwindigkeitsveränderungen und Echos eingesetzt. Oft frischt Sentimento seine Improvisationen mit eigentümlichen Samples und Effekten auf. Die Stücke sind kurz und wirken wie eine Skizzensammlung. Dies hat auch mit seiner Arbeitsweise zu tun. Er hört tage- und wochenlang nur einen Künstler oder Song. Dann verarbeitet er seine Eindrücke, verbringt aber nie mehr als einen Tag damit, an einer Songidee zu arbeiten. Unbeirrt sucht Far Out-Label-Chef Joe Davis ständig nach derart obskuren Musikern, die immerhin zeigen, dass es musikalische Ecken in Brasilien gibt, die man kaum erahnen kann.
Rodrigo Amarante – „Drama“
Polyvinyl Records
Brasilien / Singer-Songwriter
Auch nicht gerade typisch für brasilianische Musik ist das Album „Drama“ des Sängers Rodrigo Amarante. Wenn ein Album mit getragenen Streichertönen anfängt, in das sich ständig Zuschauergelächter mischt, weiß man im Grunde, das ist nicht von der Stange – so das Titelstück von „Drama“. Auch Amarantes Song „Mare“ beinhaltet eine besondere Polyrhythmik aus Gitarren und Schlagzeug, dazu etwas Synthesizer und Bläser. Der Gesang dagegen wirkt introvertiert, melancholisch. Ließe man nur ihn übrig, würde das Stück nach einem frühen Song der Smiths wirken, die Amarantes angeblich verehrt. Das Album hat etwas von verträumten Singer/Songwriter-Balladen, dezenten afrikanischen Rhythmen, leichten psychedelischen Momenten, einen Touch Bossa Nova, aber vor allem einem schlafwandlerischen Gesang mit hypnotischer Wirkung. Teilweise könnte man meinen, ein Album aus den 1970ern erwischt zu haben. „I can’t wait“ mit seinen Cembalo-Klängen ist so ein Stück. Doch man merkt, hier ist jemand auf der Suche nach unverbrauchten Arrangements, die zu seiner besonderen brasilianischen Melancholie passen. Man sollte Amarantes wahrscheinlich mehrfach hören, um seine komplexen Ideen zu würdigen. Bislang war der Musiker mit der Samba-Bigband Orquestra Imperial oder den Rio-Rockern Los Hermanos bekannt geworden.
Jesse Royal – „Royal“
Somophore, Easy Star
Jamaica / Reggae
Auch Reggaestars klingen heute nicht mehr nur nach pulsierendem Roots Reggae, sondern sie stellen sich stilistisch vielfältig auf und nutzen erfolgreiche, klangliche Arrangements aus der Popmusik. Bei Jesse Royal dominieren auf seinem Album „Royal“ die Halleffekte mit sanften Echos, die anders als im Dub sphärischer klingen. Dazu Autotuning im Gesang, ein weit zurückgemischter Chor sowie eine Mischung aus R & B und etwas Reggae Toasting. Heraus kommt fast eine neue Variante des Lovers Rock, die aber manchmal zu überproduziert und melodisch eintönig wirkt.
Amparanoia – „Himnopsis Colectiva“
Mamita Records, Galileo MC
Spanien / Mestizo
Vom Mestizo-Stil hat man in den letzten Jahren nicht mehr so viel gehört. Der Neuigkeitswert scheint sich abgeschliffen und die entsprechenden Bands sich etabliert zu haben oder sind in der Versenkung verschwunden. Eine der wichtigsten Bands in dieser Richtung war Amparanoia. Allerdings hat auch sie eine längere Pause eingelegt. So ist „Himnopsis Colectiva“ ihr erstes Studioalbum seit 2006. Obwohl in Spanien ansässig, ist die Band für den Latin-Music-Bereich von Interesse, denn sie vermischt lateinamerikanische Stile wie Cumbia, Reggae oder Rumba mit Rock oder Balkan Brass. Spanien ist eines der Zentren der Mestizo-Musik, die es aber weltweit gibt. Der Musikstil ist vergleichsweise popmusik-affin, weil er generell eine fröhliche Mitsingstimmung verbreitend. Und dies ist teilweise auch das Problem des Albums. Manche Titel bauen mehr auf die Partystimmung auf, denn auf kompositorische Besonderheiten. So unterscheiden sich der zweite, vierte und fünfte Titel melodisch kaum voneinander. Hinzu kommt der ständige Mitsingchor in Verbindung mit simplen Melodien. Das führt auf Dauer zu einer etwas profillosen Musik. Das wird nur teilweise durch stilistische Wechsel und die in Richtung Country gehende Gitarrenarbeit von Willy Fuego ausgeglichen. Da ragt der Balkan-Brass-Titel „El Dia Que No“ allein durch seine deutliche Andersartigkeit hervor. Das durchschnittliche Tempo der Songs ist etwas langsamer als das der meisten Mestizo-Bands, in denen Polka und Punk ebenso eine Rolle spielen. Doch das passt gut zu der charismatischen Stimme von Sängerin Amparo Sánchez. Inhaltlich beschäftigt sich das Album teils mit der psychischen Situation in der Pandemie. Die Fans von Amparanoia dürften die Wiedervereinigung der Band nach 15 Jahren als Aufbruchsstimmung deuten.
Juana Molina – „Segundo“
Crammed Discs, Indigo (CD); PIAS (digital)
Argentinien / Indie Folk
Wie jüngst schon berichtet, veröffentlichen derzeit manche südamerikanischen Musiker aus der Not der Pandemie heraus alte Alben wieder. Ob das auch auf Juana Molina zutrifft, darüber lässt sich nur spekulieren. Ihr Album „Segundo“ stammt aus dem Jahr 2000 und wurde jetzt neu gemastert wiederveröffentlicht. Hierauf entwickelte die argentinische Sängerin ihren Sound, der irgendwo zwischen Indie Pop und Electro-Folk liegt. Der etwas emotionslose Gesang und die manchmal wimmernden, zirpenden und klickenden Elektroklänge sind zwar gewöhnungsbedürftig, aber immerhin passen sie zueinander. Molina hat eine eigene, kompromisslose Klangsprache gefunden und für den Singer/Songwriter-Bereich vielleicht eine ähnliche Wirkung wie einige Electro-Pop-Pioniere in den Zeiten von New Wave der 1980er. Manches erinnert auch an Wohnzimmer-Pop oder den ätherischen Shoegazing Rock. Mit ihren originellen Klängen hat sie international Erfolg und zeigt im Übrigen, dass es in Argentinien eine imponierende Electroszene gibt. Es sei dabei an Electrotango-Bands oder Popmusiker wie Axel Kryger erinnert. Für Fans ist ein neues umfangreiches Booklet beigelegt. Außerdem ist das Cover mit der Stupsnase im Meer der Haare einen Extrapunkt wert.
Lucas Santtana – „3 Sessions In A Greenhouse“
Mais um Discos
Brasilien / Dub, MBP & Baile Funk
Auch das Album „3 Sessions In A Greenhouse“ des brasilianischen Sängers und Soundtüftlers Lucas Santtana ist eine Wiederveröffentlichung aus dem Jahr 2006. Es präsentiert eine Mischung aus den psychedelischem Dub-Klangabenteuern des frühen Lee Scratch Perry, MBP, Rock und Baile Funk mit Bläserklängen, Funkgitarren, Gesang und Spoken Words, Distortion Sounds, programmierten Rhythmen und hypnotischer Perkussion. Der raue Klang dürfte den Aufnahmebedingungen geschuldet sein, denn das Album präsentiert Aufnahmesessions, weshalb die Stücke etwas unfertig wirken. Die Musik ist wild und energetisch sowie musikalische Kategorien ignorierend. Hierbei scheint sich Santtana damals selbst gefunden zu haben. Bemerkenswert ist die Teilnahme von Tropicalismo-Ikone Tom Zé, der mit seinem Stück „Ogodô Ano 2000“ gut dazu passt. Santtana setzt dessen Erbe von der musikalischen Einstellung her fort. Ebenso taucht Manguebeat-Pionier, Drummer und Sänger Gilmar Bola 8 auf und der deutsche Synchronsprecher Stefan Betke a.k.a. Pole hat die Aufnahme geremastered. Der heftige „Awô Dub“ gleich zu Beginn bietet z. B. eine sich ständig wiederholende, krimi-artige Melodie, dazu knallige, übersteuerte Drums, sirenenartiger Synthiesounds, hektische Tribal-Perkussion – wie ein Soundtrack zu einem Polizeifilm. Eigenwillig, roh, experimentell und innovativ.
„Republicafrobeat Vol. 5 – Mujeres II“
Diverse
Galileo
Chile, Brasilien u. a. / Afrobeat
Afrobeat in einer Latinkolumne? Warum nicht? Man sollte nicht vergessen, dass der größte Teil lateinamerikanischer Musik ursprünglich afrikanische Wurzeln hat. Afrobeat ist allerdings ein jüngerer Musikstil, eine äußerst tanzbare Mixtur aus Funk und Jazz gepaart mit westafrikanischem Highlife, der sich Ende der 1960er Jahre in Nigeria entwickelte. Seit allerdings rund 20 Jahren hat er weltweit Bands infiziert. Afrobeat-Nummern oder Stücke ins Repertoire aufzunehmen, wurde teilweise gar zum Modetrend der jüngsten Jazzgeneration. Inzwischen gibt es auch etliche Frauenbands, die sich dem Afrobeat verschrieben haben. Kein Wunder, hatte der Stil seit Fela Kuti schon immer eine politische Dimension. Eine entsprechende Kompilation wurde jetzt mit „Republicafrobeat Vol. 5 – Mujeres II“ veröffentlicht. Newen Afrobeat z. B. ist nicht nur die erste weibliche Afrobeat-Formation aus Chile, sondern die erste Band dieser Art dort überhaupt. Wie die meisten Acts auf dieser rein weiblichen Kompilation schaffen sie es, den großen Vorbildern ebenbürtig zu klingen. Bei Newen Afrobeat kommt allerdings noch ein perfekter Satzgesang dazu. Unverkennbar aus Brasilien stammt das Funmilayo Afrobeat Orquestra. Etwas gemütlicher im Tempo, aber dafür sich mehr mit der brasilianischen MPB verbindend. Die erste lateinamerikanische Band, die mit diesem Afrobeat auffiel, war Bixiga 70 aus Brasilien, die hier mit der Sängerin Selma Uamusse zu hören ist. Ihre gemeinsame Nummer „Maputo“ wirkt allerdings etwas simpel. Ansonsten sind noch Musikerinnen aus Polen, Südafrika oder den USA zu hören. Dabei entwickelt die Band Weird MC den Afrobeat geschickt weiter in Richtung Breakbeats und Rap oder Akua Alrich hin zum R&B.
Quetzal – „Puentes Sonoros“
Galileo
USA / Mexikanische Folklore
Die aus Los Angeles stammende Band Quetzal versteht sich als kulturbewahrend und kulturvermittelnd bezüglich der mexikanisch verwurzelten Musik in Kalifornien. Für ihr Engagement hat sie bereits einen Grammy bekommen. Doch es dürfte dem nicht sicher spanisch sprechenden Hörer schwerfallen, mit diesem Album etwas anzufangen, es sei denn, man kennt sich gut in der Chicano-Folklore aus. Im Unterschied zu einem ihrer vorherigen Alben, wo man noch stilistisch interessant experimentierte, wirkt „Puentes Sonoros“ sperrig. Dies ist im Grunde ein dokumentarisches Album, das eine Brücke schlagen will zwischen den musikalischen Wurzeln der mexikanischen Stadt und dem Bundesstaat Veracruz und der Musik der Chicanos in L.A.
Veracruz ist das Zentrum des Son Jarocho („La Bamba“ z. B. ist das bekannteste Stück dieses Genres), aber auch der Fandango soll hier entstanden sein. Mit Feldaufnahmen, Demos und O-Ton-Mitschnitten aus Veracruz einerseits und von Quetzal gespielter, hierzulande eher unbekannter mexikanischer Folklore sowie einem umfangreichen Booklet andererseits versucht man ein kulturelles Kaleidoskop entstehen zu lassen. Die Musik ist charakterisiert von Perkussion, die an Tanzschritte erinnert und einem Gesang wie aus Protestsongs. Wer sich mit dem mit Schuhsohlen erzeugten Rhythmus des Zapateado oder Batá-Trommeln auskennt, der dürfte hier ein Ohr für haben. Ansonsten ist das Album nur etwas für Eingeweihte zu dieser Thematik. Zudem sind die Lautstärkeunterschiede zwischen den dokumentarischen und musikalischen Tracks ausnehmend groß.