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Alben

Latin Music News #44 – Neues von Caetano Veloso und Hermeto Pascoal

Caetano Veloso – „Meu Coco“

Es gibt wieder eine neue Ausgabe der Latin Music News. Es gibt diesmal zwar wenige neue Alben, dafür einige Schwergewichte.

Die passende Radioshow von DJ Hans findet ihr auf Mixcloud oder direkt hier:

Caetano Veloso – „Meu Coco“

Caetano Veloso – „Meu Coco“Uns Produções, Sony Music
Brasilien / MPB

Nach fast einem Jahrzehnt ist „Meu Coco“ das erste Studioalbum des brasilianischen Altstars Caetano Veloso, der in der Zwischenzeit meist akustisch betonte Livealben mit Gästen veröffentlichte. Veloso gilt als ein Songtexter von Weltrang: experimentell, Kontraste kombinierend. Obwohl er im von fanatischen Evangelisten beherrschten Brasilien als einer der wenigen bekennenden prominenten Atheisten lebt, wäre es naiv, von ihm jetzt eine Art „Protestsong-Album“ als musikalischer Widerstand gegen die weltweit nur Kopfschütteln erzeugende brasilianische Regierung zu erwarten. Dafür ist Veloso zu sehr intellektueller Künstler. Insofern ist „Meu Coco“ inhaltlich eher ein Kaleidoskop zwischen menschlicher Intimität und Reaktionen auf gesellschaftlichen Wandel. Es ist eine Collage aus spontanen Assoziationen, lyrischen Fragmenten und hochartifiziellen politischen Einschätzungen. Musikalisch knüpft es mit seinen akustischen Balladen, die mit Tempowechsel, afrokubanischer Perkussion und Orchestrierung versehen sind, an sein 1997er Album „Livro“ an, vermischt mit einigen minimalistisch arrangierten rhythmischen Stücken.

Der Funk-Carioca „Não Vou Deixar“ wurde laut einem Interview Velosos mit Billboard von der Wahl des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro inspiriert. „An dem Tag, an dem er gewählt wurde, sagte ich, dass die Dinge, die er geplant hatte, nicht passieren würden, weil ich sie nicht zulasse. Ich wiederhole in meinem Kopf ununterbrochen: ‚Não vou deixar – Ich werde es nicht zulassen.‘ Als der kleine Sohn eines Freundes mich diese Worte schreien hörte, sagte er: ‚Großvater ist nervös.‘ Also fügte ich das dem Text hinzu.“ Genau so entwickelt Veloso seine Textkunstwerke.

Insofern ist es wieder einmal sehr komplex, was da in Velosos Dickschädel vor sich geht, denn so könnte man „Meu Coco“ übersetzen. Diese sehr indirekte Art der Kritik würde für deutsche Maßstäbe als zu oberflächlich angesehen werden. In Brasilien versteht man die Absicht hinter den großen Worten des Meisters dennoch. Schließlich hat er in Interviews Bolsonaro bereits als verwirrt und inkompetent bezeichnet. Nachvollziehbar bei einem Präsidenten, der davor warnt, dass Impfungen gegen Corona „Menschen in Krokodile verwandeln würden. Außerdem vermischt Veloso in „Não Vou Deixar“ elektronische Beats mit akustischen Tönen.

Manches auf dem Album klingt nicht anders wie Stücke vor vierzig Jahren. Insofern fallen individuell arrangierte Songs besonders auf. „Anjos Tronchos“ besticht mit einem bedrohlichen, dramatischen Bass-Riff, abgelöst von hellen Zwischenparts. Smartphone-Verweigerer Veloso setzt sich hier in seiner an Metaphern reichen Art mit sozialen Netzwerken, Algorithmen und politischen Manipulationen auseinander. Manchmal wirkt das Album wie ein Skizzenbuch. „Ciclâmen do Líbano“ hat einen hypnotischen Rhythmus mit schmeichlerischen orientalisch anmutenden Streichern. Dann wieder ein simpler Candomblé-Rhythmus oder ein frohgestimmter Samba. Die Kompositionen wirken einfach und die Melodien betörend. Musikalisch ist das Album zwar keine Offenbarung, aber interessanter als vieles, was Veloso in den letzten 20 Jahren veröffentlicht hat. Es ist voller Ideen, die ständig die Richtung ändern und das Hörerlebnis mit Unsicherheit färben. Der Zeit der Corona-Pandemie und verantwortungslosen bis menschenfeindlichen Politik in Brasilien begegnet Veloso mit Verspieltheit, Sanftheit, Fantasie und Anmut. Das war in den 1960er Jahren in der Militärdiktatur nicht anders.

Hermeto Pascoal E Grupo – „Planetário da Gávea“

Hermeto Pascoal E Grupo – „Planetário da Gávea“Far Out Recordings
Brasilien / Brazil Jazz

Auch von einem weiteren brasilianischen Altmeister gibt es wieder einmal etwas zu hören. Als Hermeto Pascoal im Februar 1981 das hier dokumentierte Konzert in Rio de Janeiro aufnahm, hatte er gerade seine neue Gruppe formiert. Viele Stücke des Doppelalbums sind nur hier dokumentiert wie das wilde „Homônimo Sintróvio“. Pascoals Musik ist voller vibrierender Rhythmen und Folkloremelodien vermischt mit Dissonanzen und Jazzimprovisationen. Besonders sein Spiel auf dem Blashorn und die Scat-Improvisation von Pascoal im „Samba Do Belaqua“ sind hörenswert und mit seinen ausgeflippten Schreien, Plopplauten, Geschnaufe und Gelache direkt lustig. „Tudo e Som“ (Alles ist Klang) heißt sein Prinzip und das ist hier gut nachvollziehbar. Wie Pascoal improvisiert, zeigt er mit seinem Klaviersolo in „São Jorge – Ilza na Feijoada“ exemplarisch. Immer wieder wechselt er blitzartig von romantischen Momenten in Kakophonien, von Ruhe in stürmische Rhythmik, von einem Hauch an Tönen in Zitate des legendären „Asa Branca“. In dieser Art von eloquenter Improvisationskunst kommt ihm nur der kubanische Pianist Chucho Valdés gleich. Auch ein achtminütiges Schlagzeug-Duett ist im Repertoire dabei. Ein weiterer Höhepunkt ist das absurde Call-and-Response-Mundstück-Selbstgespräch in „Bombardino“, welches wie eine Mischung aus Tratschgeschnatter und Selbstironie wirkt. Die Stücke sind teilweise über eine halbe Stunde lang. Multininstrumentalist Pascoal (p, horn, ts, fl) ist im Jazzbereich schon immer einige Nummern radikaler und verrückter gewesen, selten wurde das aber so gut dokumentiert. Manchmal ist die überbordende Energie kaum auszuhalten. Vielleicht sollte man diese Musik nur besoffen konsumieren.

Dowdelin – „Lanmou Lanmou“

Dowdelin – „Lanmou Lanmou“Underdog Records, Broken Silence (physisch); Believe (digital)
Frankreich, Karibik / Electronica

Wenn Musik in ein mehrfaches Bad von Karibik, Frankreich und internationaler Clubmusik eingetaucht wird, dann mag sie so klingen wie bei Dowdelin. Perkussionsrhythmen aus Guadeloupe, Break Beats des Hip Hop, Reggae, Steeldrum-Samples, Zouk, Beguine und Effekte der Electronica Music treffen hier zusammen und verlieren sich zu etwas Neuem, was einerseits stylish klingt, andererseits aber seine vielfältigen Wurzeln nicht verleugnet. Eine neue Generation steht also in der Tür, die nicht nur unter Palmen, sondern auch in den Großstadtghettos aufgewachsen ist und ihre Hörerfahrungen und Empfindungen einbringt. Man will Teil des weltweiten Rhythmpools sein und lieber in Clubs gespielt werden, als auf Weltmusikfestivals irgendeinen Kontinent repräsentieren. Deswegen singt man auch vielsprachig und lässt das Stichwort „kreolischer Afrofuturismus“ fallen. Es muss ja weitergehen.

High Tone & Zenzile – „Zentone Chapter 2“

High Tone & Zenzile – „Zentone Chapter 2“Jarring Effects
Frankreich / Dub

Ab und zu werden auch Dub-Alben angeliefert und Dub ist als Reggae-Abart am Rande lateinamerikanischen Ursprungs. High Tone und Zenzile sind zwei französische Dub-Projekte und wenn Zen im Namen steht, dann ist da auch Zen drin. Zumindest nennen die beiden nicht nur ihre Mixe so, es ist ebenso ein recht entspannter Dub im Midtempo. Das wirkt sphärisch wie mit der verträumten Melodica im „Hilltop Dub“, und manchmal sind sogar asiatische Harmonien und Dub Poetry zu hören. Am stärksten sind jedoch die Instrumentaltitel, wenn wie im „Stone Cold Dub“ eine verlorene Querflöte auf einen pulsierenden Sequencer trifft. Insgesamt bewirkt das Album jedoch eher die Frage, ob es entscheidend Neues im Dub gibt oder sogar noch geben kann. Der im August verstorbene Altmeister Lee Scratch Perry beispielsweise war bis zuletzt derart auf der Suche nach Weiterentwicklung, dass man sich fragen konnte, ob sein Spätwerk noch zum Dub gezählt werden sollte.

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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