Stile mischen, Genres ignorieren, Puristen irritieren
Als 2010 die Kompilation „Oi! A Nova Música Brasileira!“ des Londoner Labels Mais Um Discos erschien, wurde sofort klar, dass Brasilien mehr zu bieten hat als Sambas und Bossa Novas. Das Label präsentiert seitdem Musikstars oft abseits der Metropolen, die brasilianische Tradition mit Folk, Afro Beat, New Wave, Punk, Noise, Hip Hop, Dub, Funk, Jazz und Electronica verbinden. Gerade bei den elektronischen Sounds klingt vieles nach kreativ genutzten Geräten vergangener Zeiten. Das Meiste davon ist wild, aggressiv, punkig, hochenergetisch, voller schriller Klänge. Es vermittelt Aufbruchsstimmung, Zorn, Betriebsstörung. Aber auch das Gegenteil, kontemplative Folksongs oder traditionelle Musik, die bislang kaum bekannt war, lassen sich entdecken. Der Pionier dieser anderen Seite Brasiliens heißt Lewis Robinson – Labelchef, DJ und Moderator der Radio-Show „Global Warning“ auf Londons Station Soho Radio. Etliche Kompilationen wie „Rôle“ oder „Real Rio“ setzten seine Übersicht fort. Zu den beeindruckendsten Musikern des Labels gehören der experimentelle Singer/Songwriter Lucas Santtana, die 73jährige Dona Onete, die Königin des Carimbo, Gaby Amarantos – ein großer Star des Tecnobrega in Belém, einem Stil, der als eine Mischung aus Electropop und Lambada begann, Bixiga 70 (siehe Bild), die Afro Beat und brasilianische Musik mit Jazz mischen, die Samba-Sängerin Elza Soares oder der kontemplative Folksänger Amabis. Robinsons neueste Entdeckung, die japanischen Minyo Crusaders, überarbeiten historische japanische Volkslieder mit lateinamerikanischen, afrikanischen, karibischen und asiatischen Rhythmen.
Mit Lewis Robinson sprach Hans-Jürgen Lenhart
Wie bist du mit der brasilianischen Musik in Kontakt gekommen?
Brasilianische Musik hörte ich zum ersten Mal Mitte der 90er Jahre durch die Radiosendungen der bekannten Moderatoren Gilles Peterson und Patrick Forge auf dem wegweisenden Londoner Sender KissFM. Ich begann 1994, als ich 18 Jahre alt war, Gilles‘ Radiosendung zu hören und es war meine Einführung in New Jazz, Drum’n’Bass, Trip Hop, brasilianische und Weltmusik. Davor hatte ich nur Indie-Musik gehört was Gilles spielte, war für mich eine Offenbarung. Ich erinnere mich, dass ich den Track „Tardes Cariocas“ von Joyce gehört habe und er hat mich einfach umgehauen. Er spielte oft Tracks anderer Bossa-Nova-Künstler wie Marcos Valle und dem Tamba Trio sowie neuere Club-Tracks, die von brasilianischen Rhythmen durch Produzenten wie Masters at Work und 4Hero beeinflusst wurden. Joyce und Marcos Valle nahmen beide für das auch brasilianisch orientierte Label Far Out Recordings auf und ich schaffte es, dort nach der Universität einen Job zu ergattern und schließlich Labelmanager zu werden. Während meiner Arbeit bei Far Out begann ich die unglaubliche Vielfalt der brasilianischen Musik zu verstehen und entdeckte die Tropicalistas aus den 60ern wie Caetano Veloso und den Pionier des Mangue Beat in den 90ern, Chico Science. Obwohl ich als Indie-Rock-Hörer aufwuchs, haben sie mich wirklich angesprochen. Ende der 2000er Jahre hatte ich dann Far Out verlassen, aber ich fragte mich, wo die heutigen brasilianischen Bands, die von Tropicália beeinflusst wurden, waren? Die einzigen Kompilationen mit zeitgenössischer brasilianischer Musik, die ich In den Plattenläden finden konnte, konzentrierten sich auf Baile-Funk oder New-Bossa. Also beschloss ich, meine eigenen Sammlungen zu kompilieren. Ich wollte das brasilianische Pendant zu den „Gegenkultur“-Alben von Rough Trade produzieren – eine Momentaufnahme der aufregendsten neuen brasilianischen Musik in allen Genres. Ich begann mit dem Stöbern in den MySpace-Seiten von Musikern – den Krabbelkisten des 21. Jahrhunderts. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ich durch eine Vielzahl von brasilianischen Psychobilly-Bands stöberte, weil sie alle so fantastische Namen hatten. Ich war überzeugt, dass ich irgendwann eine finden würde, die einen unglaublichen Samba-Psychobilly machen würde – aber das passierte nicht. Später am selben Abend stolperte ich über Baiana System und ihren Track „O Carnaval Quem È Que Faz“ – Guitarra Baiana [4- oder 5-saitige E-Gitarre aus Bahia – HJL] gekreuzt mit Kuduro [schneller angolanischer Tanzstil – HJL] – ein garantierter Dancefloor-Smash. Ich fühlte mich, als hätte ich im Lotto gewonnen.
Nach monatelanger Recherche besuchte ich Ende 2009 Brasilien und verbrachte einen Monat damit, zu Auftritten zu reisen und Künstler, Labels und Journalisten zu treffen, ihnen zu sagen, was mir gefiel und sie zu bitten, mir andere ähnliche Sachen zu spielen. Wie bei jedem Musikgenre, das du noch nie gehört hast, kann es eine Weile dauern, bis sich deine Ohren daran gewöhnen. Tecnobrega aus der Stadt Belém im Norden Brasiliens ist ein solches Genre. Beim ersten Hören klingt es wie Ende 80er/Anfang 90er Jahre Euro-Pop, der auf einem ZX Spectrum [Heimcomputer der 80er Jahre – HJL] gemacht wurde. Gräbst du jedoch ein wenig tiefer, dann findest du Künstler wie Maderito und Gaby Amarantos, die ansteckende Pop-Dance-Jumper machen, die selbst ein verhärteter Zyniker wie ich unwiderstehlich findet. Gaby Amarantos‘ „Melody Do Vetron“ zum ersten Mal zu hören, während ich in Belém herumgefahren wurde, war als würde ich 20 Jahre zurück in die Vergangenheit transportiert werden, in den Moment, als ich als knallhungriger 13-Jähriger zum ersten Mal Technotrics‘ „Pump Up The Jam“ hörte.
Wie würdest Du die Richtung oder das Konzept des Labels beschreiben?
Das ursprüngliche Ziel des Labels war es, den Menschen zu zeigen, was heute in der alternativen brasilianischen Musikszene passiert und dass es eine unglaublich gesunde, vielfältige und lebendige Musikszene gibt, in der Musiker in verschiedenen Musikrichtungen experimentieren, so wie in Europa und Amerika. Seit 2019 habe ich mich entschieden, über Brasilien hinauszuschauen und Musik zu produzieren, die ich von Künstlern aus der ganzen Welt mag, bin aber immer noch hauptsächlich auf unabhängige, zeitgenössische Künstler konzentriert. Das Konzept ist das gleiche geblieben, aber das Spielfeld wurde einfach um einiges größer – und ich bin begeistert.
Gab es im Laufe der Jahre eine Entwicklung oder einen Richtungswechsel?
Im Bereich der brasilianischen Musik habe ich das Label mit dem Ziel gegründet, so viele Styles wie möglich abdecken zu wollen, was die von mir veröffentlichten Kompilationen schon immer versucht haben wie „Oi! A Nova Música Brasileira!“ und „Rôle: New Sounds Of Brazil“ oder Rodrigo Brandaos Überblick über Brasiliens Hip-Hop-, Afro-Beat- und Dub-Szenen auf „Daora: Underground Sounds of Urban Brazil“ und „Real Rio“, Chico Dubs wilde Fahrt durch die Rock-, Pop-, Noise- und elektronische Musikszene von Rio de Janeiro. Ich hatte das Glück, langfristige Arbeitsbeziehungen zu Künstlern wie Lucas Santtana, Dona Onete, Graveola und Méta Méta zu knüpfen, indem ich mehrere Soloalben mit ihnen veröffentlichte oder sie in die Kompilationen mit aufnahm.
Sind einige der Musiker der „Oi!-Compilation“ kommerziell erfolgreich geworden?
Ich betrachte es als kommerziell erfolgreich, von der Arbeit mit Musik leben zu können. Viele der Musiker waren bereits vor der Veröffentlichung dieses Albums (vor einem Jahrzehnt!) kommerziell erfolgreich und es macht mich glücklich, dass zehn Jahre später viele von ihnen noch heute Musik machen.
Lucas Santtana (siehe Bild), einer der bekanntesten Namen deines Labels, ist als Musiker sehr experimentell. Ist er eine Art Post-Tropicálist?
Ja, ich denke, so könnte man ihn nennen. Er hat den gleichen musikalischen Hunger wie die Tropicalistas, verschlingt Musik aller Stilrichtungen und so ist es nicht verwunderlich, dass sich dies in seiner Musik mit ihren unzähligen brasilianischen und internationalen Einflüssen widerspiegelt. Sein neuestes Album „O Céu É Velho Há Muito Tempo“, das über No Format veröffentlicht wurde, mag auf den ersten Blick als seine bisher „traditionellste“ Platte erscheinen, da der Fokus auf Gitarren und Gesang liegt, doch wiederholtes Zuhören offenbart ein kaleidoskopisches Samba-Album eines meisterhaften Songwriters im wahren Sinne der Tropicalistas.
Wie hast du eine Musikerin wie Dona Onete aufgestöbert, die aus einer Ecke Brasiliens kommt, die für uns hier in Europa musikalisch nicht sehr bekannt ist?
Auf meiner zweiten Reise nach Brasilien, als ich für meine erste Kompilation recherchierte, besuchte ich Belém do Pará, weil ich hörte, dass es dort eine unglaubliche Musikszene gibt. Ich entdeckte tolle Künstler wie Pinduca, Felipe Cordeiro, Gaby Amarantos und meine Favoritin Dona Onete. Sie ist eine unglaubliche Songwriterin und Performerin, die erst mit 73 Jahren anfing, vor Publikum aufzutreten. Ihre Lebensgeschichte ist beeindruckend: Sie war Lehrerin, Forscherin der indigenen Kultur, Beamtin, Kämpferin für Arbeitnehmerrechte, Kulturministerin, Kinderbuchautorin – und jetzt endlich eine Sängerin/Performerin, die in Brasilien zu einem Nationalschatz geworden ist.
Sie wurde auf Marajó, der größten Flussinsel der Welt an der Mündung des Amazonas, geboren, ihre Mutter war eine einheimische Amazone, während ihr Vater von afrikanischen Sklaven abstammte. Er starb kurz nach ihrer Geburt und ihre Mutter starb, als sie neun Jahre alt war. Onete wurde dann von ihrer Großmutter betreut. Ihre Familie zog als Kind nach Belém, und im Alter von 15 Jahren sang sie in Bars, doch ihre musikalischen Ambitionen wurden bald zerstört, wie sie mir sagte: „Ich war mit 22 verheiratet und als ich versuchte, zu Hause zu singen, gefiel es meinem Mann nicht, also musste ich aufhören.“. Im Alter von 73 Jahren erfüllte sie schließlich ihre Ambitionen als Sängerin und durch die Erforschung der lokalen Rhythmen hat sie ein tiefes Verständnis für die Musik dieser Gebiete und kombiniert diese mit Texten, die den Amazonas und seine lokalen Traditionen loben sowie Beobachtungen über das Leben.
Kurz nachdem ich Amabis zum ersten Mal gehört hatte, entdeckte ich Tigana Santana und einige ähnliche Sänger, die einen ziemlich zarten oder gar kontemplativen Klang haben. Ist das eine neue Richtung in der brasilianischen Musik?
Ich denke, João Gilberto hat bereits in den späten 50er/Anfang 60er Jahren die Vorlage für diesen kontemplativen Sound geschaffen. Er stellte das Drehbuch wirklich um und zeigte „einen neuen Beat“, in dem Sänger und Songwriter reflektierende, melancholische Musik kreieren konnten, die schließlich die Welt im Sturm eroberte und ein riesiges Erbe an Musik hinterließ. Amabis, Tigana Santana und andere setzen sein Vermächtnis fort, aber auf ihre eigene Art und Weise.
Eine deiner letzten Entdeckungen sind The Minyo Crusaders. Es gibt ja viele japanische Musiker, die sich für Latin Music interessieren. Woher kommt dieses Interesse?
In den 1950er Jahren kombinierten in Japan Sänger wie Hibari Misora, Chiemi Eri und die Tokyo Cuban Boys die japanische Minyo-Volksmusik mit südamerikanischen Rhythmen, um eine Art eigenwillige, exotisch anmutende japanische Volksmusik zu schaffen. Die Minyo Crusaders machen eine moderne Erweiterung davon, die Minyo nicht nur mit südamerikanischen Rhythmen, sondern auch mit Einflüssen aus der Karibik, Afrika und darüber hinaus kombiniert.
Hast du Partner in Brasilien für die Kontakte zur Musikszene?
Ja, ich arbeite mit vielen Künstlern und ihren Managern zusammen, seit fast einem Jahrzehnt mit Booking-Agenturen, die mir Tipps zu neuen Künstlern geben.
Ich hatte auch Kontakt mit Joe Davis von Londons Far Out Recordings. Er sagte mir, dass einige seiner Bands in Europa erfolgreicher sind als in Brasilien. Wie ist die Situation mit deinen Musikern?
Ich würde sagen, dass Brasilien der Hauptmarkt für alle brasilianischen Künstler ist, mit denen ich arbeite. Es ist ein so großes Land – fast ein Kontinent – und es gibt so viele Möglichkeiten für sie, dort durch das Land zu touren, um Publikum zu erreichen.
Ich habe den Eindruck, dass im Vergleich zu den 90er Jahren weniger brasilianische Musiker nach Deutschland und vielleicht auch nach Europa kommen. Könnte dies ein Ausdruck der Wirtschaft in Brasilien sein?
Ich denke, es ist mehr als alles andere ein Ergebnis des Zusammenbruchs der Musikindustrie in den 2000er Jahren. Nach dem Einbruch des CD-Verkaufs gab es einfach nicht das Geld, um zu investieren, so dass natürlich Künstler, die in „Nischenmärkten“ wie der „Weltmusik“ arbeiten, am meisten darunter litten. Alle großen Labels haben aufgehört, in Musik aus der ganzen Welt zu investieren und natürlich schrumpft die Sichtbarkeit einer Szene dadurch.
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