Nach wie vor tobt die Corona-Pandemie in Lateinamerika aufs Heftigste. Da wundert man sich fast, dass Musik von dort überhaupt noch bei uns ankommt. Auffallend ist natürlich, dass die Wiederveröffentlichungen zugenommen haben und die Neuveröffentlichungen auch vor Beginn der Krise fertiggestellt worden sein dürften. Dem Ideenreichtum tut das aber keinen Abbruch und daher ist es legitim, der lateinamerikanischen Musik ein weiteres Forum zu bieten. Die Veröffentlichungen der Latin Music News werden ab jetzt vom Schreiber dieser Kolumne in zwei Webradios auf Mixcloud vorgestellt, einmal auf Englisch (Lost in Latin Music) und einmal auf Deutsch (Latin Music Club), den man auch direkt hier anhören kann:
Nun aber zu den aktuellen Veröffentlichungen:
Harold López-Nussa – „Te Lo Dije“
Mack Avenue Records
Kuba / Cuban Jazz
Spielfreudig, ideenreich, gut gelaunt, experimentierfreudig und äußerst vibrierend präsentiert sich Harold López-Nussa auf seinem neuen Album, mit dem er unterstreicht, dass er zur absoluten Spitze der kubanischen Pianisten zählt. Es ist ein Musterbeispiel an thematischer Verarbeitung im Jazz, zudem er starke Melodien vorweist, auch bekannte Songs wie „Windmills Of Your Mind“. Rasende Unisono-Kaskaden wie in „El Buey Cansando“, die Kinderstimme seiner Tochter Lila oder die Straßengeräusche Havannas sind dabei kleine Besonderheiten. Zu den größeren Besonderheiten zählen seine Gäste wie der Funk-Superstar Cimafunk, Reggaeton-Sänger Randy Malcom von Gente de Zona und der französische Akkordeonist Vincent Peirani, aber auch die Verwendung verschiedener Stile wie Mambo, Guajira, Reggaeton oder Songo. Und Titel wie „Van Van Meets New Orleans“ sprechen wohl für sich. Perfekt, wie hier die typische Rhythmik der Stadt mit kubanischem Klang versetzt wird. Gerade die Crossoverstücke wirken auf dem Album am gelungensten. Miles Davis hatte einst wegen seines Ansinnens, Jazz und Hip Hop zu verbinden, die Plattenfirma wechseln müssen. In Kuba geht das Grenzen aufbrechen wohl etwas einfacher.
„Cadence Revolution: Disque Debs Vol. 2 (1973-1981)“
Verschiedene Künstler
Strut Records, Indigo
Französische Antillen / Cadence
Die kreolische Cadence-Musik stammt aus Guadeloupe und Martinique und entwickelte sich in den siebziger Jahren zu einer pan-karibischen Tanzmusik, die bis nach Frankreich drang. Es ist eine fröhliche Musik mit hypnotisch treibenden Gitarren, melodischen Bläsersätzen und schmeichlerischen Bläsersoli. Auch mischt sich mal ein Akkordeon drunter. Im Cadence vermengen sich puerto-ricanischer Salsa, Calypso, Jazz, Reggae sowie kongolesischer Soukous mit den einheimischen Stilen Biguine, Quadrille und Gwo Ka. Ursprünglich kam der Cadence aus Haiti und wurde auf den französischen Inselkolonien als Kadenzrampa oder Méringue eingeführt, was zu einer größeren kulturellen Identität der Französischen Antillen führte. Bei uns kaum geläufig, wird man im Cadence eher Ähnlichkeiten zu bekannteren Stilen wie Zouk, Salsa oder dem Afropop jener Zeit heraushören. Die berühmtesten Bands waren Les Vikings, Super Combo oder die Typical Combo. Typisch sind die einzelnen Nummern aber nicht unbedingt, denn der Cadence entwickelte sich äußerst unterschiedlich. Manche Tracks kommen auch heute noch sehr animierend rüber. Ausgrabungen dieser Art sind ja seit langem in der Rare-Groove-Scene beliebt.
Jamaica Johnny & his Milagro Boys – „Trinidad, The Land Of Calypso“
Bear Family Records
Niederlande / Calypso
In den späten fünfziger Jahren stand man in Europa auf Calypso. Cornelis Liefeld alias Jamaica Johnny war einer der Musiker, die diesen Hype 1957-1962 in den Niederlanden befeuerten. Man merkt sein gutes Showtalent und er mischte auch andere Stile bei. Der Musiker war nie in Trinidad oder Jamaica, sondern stammt aus Surinam, was aber damals egal war.
Moonlight Benjamin – „Simido“
Ma Case Records
Haiti, Frankreich / Ethorock
Von Musik aus Haiti erwartet man bestimmt andere Klänge als die der haitianischen Sängerin Moonlight Benjamin. Zu ihrer dunklen Stimme hat sie sich eine energetische Rockband gesucht, wodurch man ihre traditionellen Wurzeln erst im zweiten Anlauf wahrnimmt. Aber wenn haitianische Musik Aufmerksamkeit erregen will, muss man halt mal klotzen.
Los Rurales – „Ocotita“
Clasicos Latinos, Naxos
Mexiko / Brass-Crossover
Wat et nich all jibt! Der Balkan-Brass-Orchester-Sound ist inzwischen in Mexiko angekommen und vermischt sich dort mit der heimischen Folklore, die ja bläsermäßig durchaus einiges gemeinsam damit hat. Zwar spielte die Combo Los Rurales aus der mexikanischen Provinz Oaxaca schon mit dem bosnischen Balkanstar Goran Bregovic zusammen und machte die osteuropäische Musik in Mexiko bekannt, das heißt aber nicht, dass man Los Rurales darauf reduzieren sollte. Die fünf Bläser plus Schlagzeuger haben ein Musikstudium der europäischen Klassiker hinter sich, was man in den Arrangements der ruhigeren Stücke und am Beginn mancher Songs merkt. Aber sie wechseln auch mal in jazzigen Swing und zitieren den New-Orleans-Jazz. Besonders gelungen ist ihnen das beim Covern von Louis Armstrongs „What A Wonderful World“. Wer das noch als kitschige Ballade in Erinnerung hat, sollte sich auf Einiges gefasst machen, nämlich auf alles, was bislang an musikalischen Einflüssen erwähnt wurde inklusive Tempowechsel. Außerdem muss man der Band bescheinigen, beim längeren Hinhören klingt sie doch wesentlich stärker nach Lateinamerika als nach Balkan. Sie absorbiert eben alles Mögliche wie auch zwei Bläser aus dem Buena Vista-Umfeld als Gäste.
Juana Molina – „ANRML“
Crammed Discs, Indigo (CD); PIAS (digital)
Argentinien / Indie-Rock
Die Argentinierin gab eine Karriere als Comedy-Star auf, um Musikerin im Bereich Indie-Electro-Folk zu sein, was auch ganz gut funktionierte. Auf ihrem neuen Live-Album geht sie stärker Richtung Indierock mit elektronischen Sounds. Ihre doch recht mädchenhafte Stimme steht dabei im Kontrast dazu, wobei ihr Gesang meist mit leichtem Phasing verfremdet wird. Die Stücke leben von einer trancigen Rhythmik und irgendwie erinnert das alles etwas an Loungepop-Bands wie Stereolab, die Molina in ihrer Zeit in Frankreich auch gehört haben dürfte. Auf „Paraquaya“ wirkt sie am intimsten und überzeugendsten. Einfache Klick-Rhythmik und meditative Keyboardsounds. Eine Art Astronautenfolk.