Es gibt wieder ein paar Neuerscheinungen und Wiederveröffentlichungen aus der lateinamerikanischen Musikszene, nachzulesen in unseren aktuellen Latin Music News (#37).
Die passende Radioshow von DJ Hans findet ihr auf Mixcloud oder direkt hier:
João Gilberto – „Chega De Saudade“
State of Art, in-akustik (Re-Issue)
Brasilien / Bossa Nova
„Chega De Saudade“ vom legendären, 2019 verstorbenen João Gilberto zählt zu den wichtigsten brasilianischen Alben aller Zeiten. Hier wurde 1959 zum ersten Mal die Bossa Nova zum Klingen gebracht und die Zusammenarbeit mit Antonio Carlos Jobim begonnen. Wie das immer so ist, wäre ja beinahe nichts daraus geworden. Gilberto entwickelte seinen Stil durch fanatisches Spielen und Üben in einem winzigen Badezimmer im Haus seiner Eltern in Diamantina. Erst vor kurzem war dieses Bad im Dokumentarfilm „Wo bist du, João Gilberto?“ zu sehen. Gilberto wurde daraufhin von seinem Vater für verrückt erklärt und in eine Nervenheilanstalt geschickt. Das Eigenbrötlerische und Bizarre blieb typisch für Gilberto für den Rest seines Lebens. Doch vielleicht hätte es ohne diese Bedingungslosigkeit nie Bossa Nova gegeben. Als Gilberto 1958 den Titelsong als begleitender Gitarrist für eine Aufnahme mit der Sängerin Elizete Cardoso einspielte, weigerte sich diese, in dem coolen, dezenten Gesang zu singen, wie es Gilberto vorschwebte, sondern sang vergleichsweise emotional wie damals üblich. So leicht war Bossa Nova also nicht durchzusetzen. Dass jedem heute bei den Stichworten „Brasilien“ und „Musik“ außer Samba die Bossa Nova einfällt, ist mit diesen Aufnahmen zu verdanken. Daran konnte auch nichts ändern, dass Gilberto jahrzehntelang zurückgezogen von der Welt gelebt hat, was der oben erwähnte Film gut vermittelt. Zum Schluss starb er als dementer, von anderen ausgenutzter und stark verschuldeter alter Mann.
Die CD bietet außer dem titelgebenden Album noch Aufnahmen der LPs „Orfeo Do Carnaval“, „O Amor, O Sorriso E A Flor“ und „João Gilberto“ (die auch unter anderen Titeln erschienen) aus den Jahren 1959-1961. Insgesamt sind es 39 Stücke, die in keiner Brasilien-Sammlung fehlen sollten.
Azymuth, Ali Shaheed Muhammad, & Adrian Younge – „Jazz Is Dead 004“
Jazz Is Dead, Groove Attack
Brasilien, USA / Smooth Jazz, Brazil Jazz
Eine weitere brasilianische Legende ist das Jazz-Trio Azymuth, welches immer wieder ins Gespräch bringt. Dies liegt vor allem daran, dass Azymuth Vorbild für eine jüngere Generation des Jazzdance ist und auch gerne mit heutigen Produzenten, Remixern und Musikern zusammenarbeitet. Ihre beste Zeit hatte die Band allerdings in den späten Siebzigern, wo die ihnen zugeordnete stilistische Bezeichnung Samba-Funk-Jazz noch am ehesten zutraf. Die Verjüngungsversuche gingen zuletzt allerdings schief, als Drummer Ivan ‚Mamão‘ Conti sich auf seinem Solo-Album „Poison Fruit“ mit Rhythmusmaschinchen und Elektrosounds versuchte. Belanglos war noch untertrieben. Jetzt ist das Trio von einem amerikanischen Label mit dem provokanten Namen „Jazz Is Dead“ eingeladen worden. Dahinter verbirgt sich aber eher die Absicht, alte Soul- und Jazzsounds inklusive das frühere Equipment wieder für hip zu erklären und Jazz einer jüngeren Generation zu vermitteln. Ob das wahre Jazzer interessiert, sei mal dahingestellt. Das Label wird betrieben von Toningenieur und Old-School-Soul-Fan Adrian Younge sowie Hip-Hop-Ikone Ali Shaheed Muhammad (A Tribe Called Quest). Das verspricht zwar einiges, hält im Grunde aber überhaupt nichts. Selten klang Azymuth langweiliger und auch das bisschen zusätzliche Querflöte bleibt wirkungslos. Mehr als hundertmal schon gehörte Musik für die Wellnessabteilung, die auf dem Wechsel zwischen zwei Akkorden basiert, kommt dabei nicht heraus. Dass Adrian Younge behauptet, „der moderne Quincy Jones“ sein zu wollen, wirkt da nur peinlich. So bekommt man Jazz tatsächlich tot und der Hype um Azymuth ist hier nicht mehr nachvollziehbar.
Jneiro Jarel – „After A Thousand Years“
Far Out Recordings
Brasilien, Costa Rica, USA / Latin Jazz, Fusion
Normalerweise ist Azymuth ja beim Londoner Far Out-Label zuhause, das ab und an Musiker ähnlicher Art wie Jneiro Jarel veröffentlicht. Das Album des amerikanischen, aber in Costa Rica lebenden Musikers versucht „die Durchdringung der brasilianischen Musik, des lateinamerikanischen Jazz sowie des US-Jazz, -Soul und -Funk mit dem Einfluss Afrikas“ zu vermitteln. Dabei kann aber auch ein Einheitsbrei herauskommen und mehr ist es leider nicht. Die Stücke leben von einem Rhythmusteppich und daraus entwickelten Klanglandschaften und sind stilistisch zwischen loungiger Clubmusik und Smooth Jazz zu verorten. Allerdings klingt fast alles nach Basistracks und man wartet ständig auf den Einsatz eines Instrumentalisten oder Sängers. Stattdessen bringen ein paar Soundtupfer die einzige Abwechslung. Vielleicht ist Jarel dem Nachteil von zu viel Homerecording erlegen. Da fehlt oft die spontane Kommunikation zwischen Musikern. Bester Titel ist „Let The Cuica Play“, bei der die Reibetrommel Cuica mit ihren Quietschlauten intensiv zum Einsatz kommt. Warum derzeit relativ viele Alben mit doch verhältnismäßig einfach strukturierter Musik herauskommen, ist spekulativ. Wirkt hier der Mainstream des Radioallerlei auf die Jazzer durch?
Kiko Dinucci – „Rastilho“
Mais um
Brasilien / Gitarrenmusik
Interessanter wird es manchmal, wenn der Aufwand etwas reduziert wird. Aus Brasilien kommen bekanntlich immer wieder höchst virtuose Akustikgitarristen. Kiko Dinucci hat allerdings einen anderen musikalischen Hintergrund als die meisten Gitarrenzauberer und bei ihm sind Gesang und Texte auch wichtig. Der aus São Paulo stammende Dinucci spielte in der dortigen Punkrock-/ Hardcore-Szene der 90er Jahre. In dieser Zeit entdeckte er aber gleichzeitig die Samba-Szene und die Rituale des Candombles. Man merkt einerseits, dass ihm Baden Powells Afro-Sambas und João Boscos perkussiver Gitarrenstil geläufig sind, Dinucci wirkt aber aggressiver, einfacher und weniger auf Virtuosität angelegt. Seine Stücke haben etwas Hypnotisches, sein Gesang ist roher, dazu gesellt sich oft ein beschwörender Chor. Effekte wie Fingernagelkratzen oder zu laut geschlagene, sirrende Saiten sowie etwas Hall und Echo definieren seine persönliche Spieltechnik. Manchmal erinnert er auch an eine Art punkigen Chico César. Textlich erzählen die Stücke von revolutionären Figuren aus der brasilianischen Vergangenheit wie Zacimba Gaba, einer angolanischen Prinzessin, die im 17. Jahrhundert versklavt, nach Brasilien gebracht wurde, dort eine Rebellion anführte und eine Quilombo gründete, eine Fluchtburg mit flüchtigen Sklaven. Bisher war Dinucci für seine Arbeit im Afro-Punk-Jazz-Projekt Metá Metá oder durch seine Kooperation mit dem brasilianischen Altstar Elza Soares bekannt. Das titelgebende „Rastilho“ ist übrigens der Knochen, der die Saiten auf der Gitarrenbrücke stützt. Das Coverfoto, ein Stillleben mit einer Mischung aus saftigen, aber auch verfaulten Früchten, verdient als Sinnbild des heutigen Brasiliens einen Preis.
Baden Powell – „Á Vontade + Swings With Jimmy Pratt“
Aquarela do Brasil, in-akustik (Re-Issue)
Brasilien / MPB
Eigentlich ist fast jedes Album von Dinuccis Vorbild, dem brasilianischen Gitarristen Baden Powell, ein Klassiker. Zwanzig Jahre nach seinem Tod ist es auch angebracht, ihn mit Re-Issues vor dem Vergessen in unserer schnelllebigen Zeit zu bewahren. Die beiden, hier im Doppelpack veröffentlichten Alben stammen aus dem Jahr 1962, als Powell die Zusammenarbeit mit Vinicius de Moraes begann und Samba mit afro-brasilianischen Formen verband. Das faszinierende „Berimbau“, in dem er den monotonen Klang dieses Instruments auf der Gitarre nachahmt, gehört dazu. Auch die für ihn typische Kombination von akustischer Gitarre und durchaus lauten, also mit dem Soloinstrument gleichberechtigten Rhythmen wie in „Sorongaio“ ist oft darauf zu hören. Ach, wie wenig instrumentaler Aufwand genügte hier einst, um legendär zu werden. Das Hypnotische der Afro-Sambas kommt zwar später auf „Tristeza On Guitar“ noch besser zur Geltung, aber hier entwickelte er seinen typischen Stil und in der Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Schlagzeuger Jimmy Pratt merkt man, dass er in der damaligen Welle der vom Jazz entdeckten Bossa Nova rhythmisch mit am meisten drauf hatte. Aber er konnte auch sehr lyrisch spielen. In seiner Gitarrenkunst ist Baden Powell bis heute unerreicht. Original Liner Notes und Cover sind mit dabei.
John Santos Sextet – „Art Of The Descarga“
Smithsonian Folkways Recordings, MC Galileo
USA / Latin Jazz
John Santos ist einer der zentralen Perkussionisten aus der San Francisco Bay Area, Musiker, Bandleader, Musiklehrer, Sessionmusiker für große Stars und Forscher seines Genres. Entsprechend hat er viele Kontakte in der Szene, was sich an der Gästeliste des Albums ablesen lässt, meist Perkussionisten und Sänger, die sein Sextett ergänzen. Er widmet sein Album der Descarga. Das sind im Latin Jazz lange improvisierte Stücke, die durch die Einbeziehung ostinater Melodien, den Guajeos und Tumbaos, gekennzeichnet sind. Das Album selbst braucht allerdings etwas, bis es in Fahrt kommt. Im Grunde besteht es aus Mainstream Latin Jazz, der vom Einsatz der Perkussionisten lebt. Erst gegen Ende bekommt das Album mehr Pfeffer, was auch am hier dynamischer agierenden Pianisten Marco Diaz liegt. Bei der „Descarga Jarocha“, einer Rumba, merkt man, dass dieses Stück einem Meistertänzer gewidmet ist: Gilberto Gutiérrez, der zu solchen, immer schneller werdenden Rhythmen sein ganzes Können zeigte.
Die passende Radioshow findet ihr hier auf Deutsch und hier auf Englisch.
Kiko Dinucci – „Rastilho“ Das Album habe ich einen Tag vor Weihnachten bei einem Freund gehört. Erst konnte ich nichts damit anfangen, aber je länger wir reinhörten umso besser hat es mir gefallen.