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Alben

Aktuelle lateinamerikanische Musik im Herbst 2017 – Latin Music News #19

Arturo O’Farrill & Chucho Valdés – „Familia: Tribute to Bebo & Chico“

Es ist seltsam zurzeit. Die Promotion lateinamerikanischer Alben hat sich seit einigen Monaten mindestens halbiert. Von den brasilianischen CDs in dieser Ausgabe sind von dreien zwei Wiederveröffentlichungen und eine kommt aus Deutschland, keine eigentlichen Neuveröffentlichungen also. Man könnte argwöhnen, die gigantische Wirtschafts- und Gesellschaftskrise in manchen lateinamerikanischen Ländern, speziell in Brasilien, schimmert hier durch. Insbesondere von den brasilianischen Altstars gibt es schon länger kaum noch Alben, die in Deutschland promotet werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass diese in Vergessenheit geraten. Da ist es schon was Besonderes, wenn es zumindest mal von diesen Wiederveröffentlichungen gibt.

Gal Costa – „Índia“

Gal Costa – „Índia“Mr. Bongo, harmonia mundi
Brasilien / MPB

Die Sängerin Gal Costa war Teil des Tropicalismo-Quartetts Doces Bárbaros (mit Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia), das 1976 entstand. Das Album „Índia“ ist jedoch von 1973 und nimmt einiges der späteren Zusammenarbeit vorweg. Entsprechend findet sich auch Gil in der Begleitband, Veloso hat zwei Titel dazu beigetragen, auch Toninho Horta und Roberto Silva spielen hier mit. Von dem etwas überarrangierten Einstieg mit Orchester sollte man sich nicht abschrecken lassen. Schon das zweite Stück „Milho Verde“ klingt sehr perkussiv, hymnisch und fröhlich. Obwohl von Gilberto Gil geschrieben, könnte es eher von Milton Nascimento stammen. Auch Velosos „Relance“ ist ein Stück Zeitgeist: Es werden immer nur einzelne Worte gesungen; eine Reminiszenz an die konkrete Poesie, der Veloso und Gil nahe standen. Über die Zeit retten dürften sich eher die einfach arrangierten Titel wie das bluesige „Da Maior Importancia“. Auch ein Funk-Stück mischt sich ins Repertoire und zeigt die stilistische Offenheit dieser Musikergeneration.

Nicht vergessen zu erwähnen sollte man das erotisch ausgelegte Cover. Vorne zeigt Gal Costa ihren Unterleib im Tanga, hinten steht sie als halbnacktes Indiomädchen. Das Cover wurde damals umgehend von der Militärdiktatur verboten, aber von Costa 2015 dann 42 Jahre später (!) offiziell veröffentlicht. Man mag spekulieren, ob die damals junge Sängerin so eine Art „Indio is beautiful“-Slogan entsprechend der „Black is beautiful“-Bewegung in den USA vermitteln wollte oder einfach das Recht auf selbstbestimmte Sexualität der damaligen Jugendbewegungen. Immerhin steht sie auch heute noch dazu.

Hermeto Pascoal & ‘Grupo Vice Versa’ – „Viajando Com O Som (the lost ’76 Vice Versa Studio Sessions)“

Hermeto Pascoal & ‘Grupo Vice Versa’ – „Viajando Com O Som (the lost ’76 Vice Versa Studio Sessions)“Far Out Recordings
Brasilien / Brazil Jazz

Und noch was neues Altes von einem brasilianischen Altstar. Hermeto Pascoals „Viajando Com O Som“ ist jedoch nie veröffentlicht worden und wie man jetzt erkennen kann, zu Unrecht. Getrost darf man das Album zu den besseren des brasilianischen Jazz-Maestros zählen. Es bietet freie Improvisationen zwischen Jazz, psychedelischen Sounds, afro-brasilianischen Rhythmen und Klängen. In „Danca Do Paje“ hört man weniger Pascoals typische Quirligkeit, sondern gar tanzbare Grooves, die sich aus einer Klanglandschaft entwickeln, wie wir sie vor allem von Airto Moreira aus dieser Zeit (1976) kennen. Ungewöhnlich ist auch die Klangskulptur – das wäre eine passende Bezeichnung – im Stück „Natal“, aufgebaut aus verschiedenartigen Flöten. Das Herzstück ist das fast halbstündige „Casinha Pequinna“, das von einer ungeheuren Dichte und Komplexität ist sowie als Highlight ein mit exotischen Perkussionsklängen vermischtes Schlagzeugsolo hat.

Offenbar verschwand das Mastertape nach dem Endmix, der bereits ein Zusammenschnitt stundenlanger Improvisationen war. Der damalige Band-Pianist Lelo Nazario hatte sich aber eine Kopie anfertigen lassen, die jetzt nach einer Restaurierung das Album doch noch an die Öffentlichkeit brachte. Es dokumentiert Pascoals Entwicklung zu einem experimentellen Musiker recht gut. Ein Jahr später veröffentlichte Pascoal sein berühmtestes Werk „Slaves Mass“.

Conexão Berlin – „Produto Importado“

Conexão Berlin – „Produto Importado“Unit Records, harmonia mundi
Deutschland / Brazil Jazz

Wie der Name Conexão Berlin schon ahnen lässt, handelt es sich hier um ein deutsches Projekt um den Perkussionisten Andreas Weiser, in dem europäisch geprägter Jazz und brasilianische Musik und Rhythmik sich zu verbinden suchen. Das führende Instrument ist die Trompete, bei brasilianischer Musik etwas ungewohnt, wie überhaupt das Album eher nach Jazz als nach Lateinamerika klingt. Zu wenig klingen die brasilianischen Kompositionen auch nach dieser Musikkultur. Da macht es die Rhythmik nicht alleine. Vom handwerklichen Können her werden daher Jazzfreunde hier durchaus überzeugt werden, für Latin Music Lovers ist das Album eher unter der Frage interessant, was man aus brasilianischen Kompositionen so alles machen kann.

Zara McFarlane – „Arise“

Zara McFarlane – „Arise“Brownswood Recordings, Rough Trade
Jamaika, England / Jazz

So klingt es, wenn jamaikanische Musik den Jazz inspiriert. Der britisch-jamaikanischen Jazzsängerin Zara McFarlane gelingt hier ein Album, das man eigentlich schlicht mit Black Music bezeichnen müsste, denn es nimmt viele Wurzeln der schwarzen Musik auf. Da gibt es Reminiszenzen an den Jazz der 70er Jahre á la Pharoah Sanders, afrikanische Musik, speziell der kongolesische Kumina wird eingebunden, man hört Afro-Beat, Dub-Anklänge und Hard Bop-Jazz-Soli. Eigentlich gibt es nur ein Stück mit einem deutlichen Reggae-Rhythmus, aber der Reggae schwingt immer mit. McFarlanes Gesang ist teils am Lovers Rock (dem Kuschel-Reggae) orientiert, wobei sie ihn mit einem mehrfach gedoppelten Chorgesang verbindet, der sehr sphärisch wirkt. Das macht die Musik geschmeidig, während die komplexe Rhythmik eher dem Jazz entspricht. Eine wirklich eigenständige Musik, die auch nichts mit einer Verbindung von Jazz und Reggae wie z. B. bei Jazz Jamaica zu tun hat.

Arturo O’Farrill & Chucho Valdés – „Familia: Tribute to Bebo & Chico“

Arturo O’Farrill & Chucho Valdés – „Familia: Tribute to Bebo & Chico“Motéma Music, PIAS
Latin Jazz

Ekstatisch, vibrierend, mit atemberaubenden Soli, die an Irakere erinnern und einen fast platt machen, eine Tour de Force, die den Hörer zum Schluss fast erschöpft zusammenbrechen lässt. So kann man die Huldigung der beiden kubanischen Pianisten und Jazzgrößen Arturo O’Farrill und Chucho Valdés an ihre Väter – Komponist, Arrangeur und Bandleader Chico O’Farrill und Pianist, Komponist, Arrangeur, Bandleader Bebo Valdés – bezeichnen. Aber es ist auch ein Multi-Generations-Tribut, denn auch die nächste Generation, darunter Pianist Leyanis Valdés, Schlagzeuger Jessie Valdés, Trompeter Adam O’Farrill und Schlagzeuger Zack O‘Farrill sind dabei. Hier hört man ein oft perkussives, polterndes, die höchsten und tiefsten Töne nutzendes Klavierspiel, das einen schier um das Instrument fürchten lässt. Erstaunlich, da die Ausgangsmelodien eher konventionell klingen. Aber dann geben diese Musiker nach wenigen Momenten alles…

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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