Endlich gibt es wieder eine neue Ausgabe der Latin Music News. Unser Musik-Experte Hans-Jürgen Lenhart rezensiert für uns die neuesten Alben aus Lateinamerika.
Hamilton de Holanda – „Samba De Chico“
MPS, Edel
Brasilien / Samba, Jazz
Nächstes Jahr können wir 100 Jahre Samba feiern. 1917 erschien mit „Pelo Telefone“ der Banda Odeon der erste Samba auf Schallplatte. Im Olympiajahr feiern die Brasilianer dieses Jubiläum schon jetzt. So auch Bandolim-Superstar Hamilton de Holanda. Er widmet sein neuestes Album den Sambas von Chico Buarque de Holanda. Klar, wenn man schon mal den gleichen Namen hat. Hamilton de Holanda schwört hier zwar nicht seiner Neigung zum Jazz ab, aber Melodie und Rhythmus stehen im Mittelpunkt, ja die Stücke sind auch gut tanzbar. Für die Jazzfans legt er zudem manchmal ein atemberaubendes Tempo oder ein Unisono-Spiel mit dem italienischen Pianisten Stefano Bollani vor. Für Momente der Beruhigung sorgen die gesungen Sambas mit der spanischen Sängerin Silvia Perez Cruz. Und der Komponist Chico Buarque hat auch zwei Gastauftritte als Sänger. Unter Hamiltons inzwischen 29 Alben ist „Samba De Chico” eines seiner besten.
Las Hermanas Caronni – „Navega Mundos“
Les Grands Fleuves, Broken Silence
Argentinien / Klassik-Latin-Crossover
Musiker aus multinationalen Familien, die zudem in verschiedenen Ländern lebten und sich auch in mehreren Sprachen ausdrücken, präsentieren sich auffallend oft als musikalisch unkonventionell und mit einer sehr persönlichen Stilmixtur. So auch die Musikerinnen der beiden folgenden Alben, die zudem noch das in der Weltmusik eher seltene Cello verbindet. Las Hermanas Caronni sind in Argentinien verwurzelte Zwillinge, die aber in Frankreich eine klassische Ausbildung erfuhren. Gianna Caronni spielt Klarinette, ihre Schwester Laura Cello und Violine, beide singen zudem. Ihrer Lebensgeschichte entsprechend bewegt sich ihre Musik zwischen besinnlich-sakraler Klassik, argentinischer Folklore wie auch Anklängen an den französischen Chanson. Die eindeutige Stärke der Zwillinge sind die getragenen Titel. In „La Melodie Des Choses“ erweisen sie sich als Meisterinnen der Stille. Musik, die in langsamen Schritten an einem Strand entlang zu schreiten scheint, Rauschen und Möwengeschrei inbegriffen. Die Geschwister sind weniger an der Präsentation ihrer Virtuosität als an Atmosphäre interessiert. Die schnelleren Nummern entstammen argentinischen Tänzen wie dem Chacarera oder der Musik des Chamamé (mit Gast-Akkordeonist Raúl Barboza). Doch ist der Klangkosmos der beiden international. Sie singen nicht nur auf Englisch, Spanisch und Französisch, da klingt mal ein Klezmer an oder ein Stück der Doors. Deren „Spanish Caravan“ wirkt sogar eher nach einem englischen Folksong. Insgesamt sorgt gerade die Reduktion des Instrumentariums für eine intensive, ergreifende Atmosphäre.
Leyla McCalla – „A Day For The Hunter, A Day For The Prey“
Jazz Village, PIAS, Rough Trade
Haiti, USA / Creole Folk, Blues, Cajun
Genauso ungewöhnlich wirkt die ebenfalls Cello spielende Sängerin Leyla McCalla. Ihre Familie stammt aus Haiti, geboren wurde sie in New York, einen Teil der Jugend verbrachte sie in Ghana. Auch hier prägte der Lebenslauf die Musik. Da mischen sich haitianische Melodien mit Cajun, Gypsy Swing und Protestsong. Es entsteht ein eigenwilliger Kosmos, der irgendwo zwischen New Orleans und Haiti liegt, französische, kreolische und amerikanische Traditionen aufgreifend. Die von ihr gespielten Instrumente Cello, Tenor-Banjo und Gitarre sorgen dafür, dass ihre Musik unverbraucht klingt. Der oft sehnsüchtige Gesang, der in der Intonation manchmal gar an Amy Winehouse erinnert, prägt den Charakter der Songs. Gerade ihr „Salangadou“ mit gezupftem Cello hat eine fast sakrale Atmosphäre und Anspieltipp „Little Sparrow“ wirkt durch die reine Cello-Begleitung äußerst sehnsüchtig. Manchmal gelingen ihr ungewöhnliche Kompositionen. So wirkt der Titelsong wie Minimal Music, an anderer Stelle geht es in Richtung Alternative Country und eine langsame Ballade mit dem Banjo zu begleiten, hört man auch nicht alle Tage. Diese Art Folk braucht keine eindeutigen Wurzeln oder elektronischen Gimmicks, um innovativ zu wirken. Auch hier imponiert es, das Cello einmal in anderen Zusammenhängen wahrzunehmen. Gleichzeitig ist es ein Album der gemeinsamen Geschichte der Farbigen zwischen dem amerikanischen Süden, der Karibik und Afrika.
Claudia Maluenda & Canción Ladoré – „Sentimiento – Protesta Y Amor/ Latinoamérica, Mon Amour… Vol. III“
Ladoré Arts / Eigenvertrieb
Chile, Peru / Nueva Canción
Die in Berlin lebende, chilenische Sängerin und Tänzerin singt Lieder aus der Zeit, in der sie vorm Pinochet-Regime aus Chile flüchtete. Dabei will sie die Lieder mit chanson-ähnlichen Arrangements und deutscher Übersetzung im Booklet einem heutigen Publikum zugänglich machen. Lieder gegen das Vergessen mit einer Methode, die gelingen kann. Die Stücke stammen aus Chile und Peru, die Musiker aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern.
Dominic Miller & Manolito Simonet – „Hecho En Cuba“
Q-rious Music, edel Kultur
Kuba / Latin Smooth Jazz
Kuba und die USA nähern sich an, da kann es zu ungeahnten gegenseitigen Befruchtungen kommen. Dominic Miller, Gitarrist und Sideman von Sting, sowie Manolito Simonet, kubanischer Timba-Pianist, verorten sich in einer Art Latin Smooth Jazz. Alles klingt sehr laid back, die Bläser sind etwas dezenter, die akustische Gitarre wirkt beruhigend, aber es hat nichts mit Latin Lounge Music zu tun. Trotz viel Perkussion und Trompeten war die Verbindung von Latin und Fusion Jazz schon vor langer Zeit mal aufregender zu hören wie z. B. bei Chick Corea. Zu sehr wirken die Instrumentaleinsätze hier nach einer Prise dies und das.
M.A.K.U. Soundsystem – „Mezcla“
Glitterbeat, Indigo
Kolumbien, USA / Latin Crossover
Die aus Exil-Kolumbianern bestehende Crossover-Band aus New York hat die typische Mischung, die derzeit dort angesagt ist: wimmernde Billig-Synthies verbinden sich mit Afro Beat und Latin Rhythmen sowie politischen Statements. Dazu eine Sängerin, die ein bisschen was von Lila Downs hat. Nicht nur das comicartige Cover erinnert an die Hippiezeit, auch der Gruppengesang manchmal fast ans Hippie-Musical „Hair“. Das beinhaltet aber auch, dass die Stück oft aus zu vielen Refrain-Wiederholungen bestehen. Mehr Improvisationen hätten dem Ganzen gut getan. Manches wirkt daher etwas brav. Einzig der schwankende Rhythmus auf „La Inevitable“ zeigt, was die Band kann, wenn sie mal Besonderes wagt.
Emersound – „Música Própria“
Flowfish Records, Broken Silence
Brasilien / Hip Hop, Reggae, Samba
Der Brasilianer Emerson Araújo a.k.a. Emersound gehört zu den Sängern, die auf eine sehr zeitgemäße Mischung aus Hip Hop, Reggae, Rock und afro-brasilianischen Rhythmen setzen. Vom Samba her kommen allerdings seine melodischen Stärken. Mal arrangiert er mit programmierten Rhythmen, mal mit Band, Chor, Bläsern. Das klingt fetzig, animiert auch meist gut zum Mitsingen. Da Emersound in Berlin lebt, hat er als Bonus vier deutsche Titel eingespielt und siehe da, die sind musikalisch sogar seine besten.
Vello Público – „Maledúcate“
Flowfish Records, Broken Silence
Chile, Brasilien, Peru, Deutschland / Mestizo
Und noch mal Latinos in Berlin: Die vier Musiker von Vello Público wohnen dort, kommen aber aus Peru, Chile und Brasilien. Ihre Mestizo-Mischung besteht vor allem aus Rap und Reggae, vermischt mit Zitaten aus Punk, Dub und Ska. In Ihren Texten beschäftigen sie sich u. a. damit, die Vermittlung von Bildung im Kapitalismus zu hinterfragen. Derartige Gruppen sind inzwischen so angesagt, dass sie den Begriff Alternative Musikkultur fast dominieren. Das Manko dieser Bands ist, dass die Stücke zu ähnlich und unterschiedlich nur im Tempo sind. Doch das spielt bei dieser Musik eine untergeordnete Rolle. Sie kommen generell live gut rüber und symbolisieren den Teil der Jugend, der noch was verändern will anstatt bloß Karriere möglichst effektiv zu planen. Und dafür dient vor allem der Gestus der Mestizo-Bands. Rein musikalisch überzeugen bei Vello Público am ehesten die etwas weniger druckvollen Stücke mit verhallter Gitarre.
Ziggy Marley – „Ziggy Marley“
V2 Records, H’Art
Jamaika / Roots Reggae
Musiker-Söhne mit ihren berühmten Musiker-Vätern zu vergleichen, hat immer etwas Ignorantes an sich. Auch Bob Marleys Sohn Ziggy hat in seiner musikalischen Sozialisation garantiert noch anderes gehört als nur die Musik seines Vaters und der würde heute wohl auch zeitgemäße Sounds benutzen. Klar, dass Sohn Ziggy dann auch anders klingt. Zwar spielt Ziggy Marley den gleichen Stil wie sein Vater – Roots Reggae – doch bei ihm klingt er poppiger, flüssiger, gefälliger, leider aber auch gleichförmiger. Viele Stücke kommen gar ohne Reggae-Rhythmus aus. Die individuellen Ideen und Kleinigkeiten fehlen, die ein Stück unverwechselbar, wenn nicht gar zum Klassiker machen. Insofern wirkt Ziggy Marleys Reggae zwar manchmal vielleicht druckvoller als der Sound seines Vaters, aber insgesamt ist alles recht einfach gestrickt.
Steinar Aadnekvam – „Freedoms Trio“
MusikkLosen / Eigenvertrieb
Norwegen, Brasilien, Mosambik / Afro-Latin-Rooted Fusion Jazz
Der norwegische Akustik-Gitarrist Steinar Aadnekvam verbrachte viele Jahre im Norden Brasiliens und arbeitet in seinem Trio mit dem Schlagzeuger und Sänger Deodato Siquir aus Mosambik und dem brasilianischen Bassisten Rubem Farias zusammen. Das Trio besticht mit einer Mischung aus afrobrasilianischer Rhythmik, Funk, Fusion Jazz und einem Schuss Flamenco. Beeindruckend ist dabei vor allem das Unisono-Spiel von Gitarrist und Drummer sowie die unerwarteten Rhythmus- und Tempiwechsel. Die Musik wirkt relaxed, ist aber weit entfernt von einem dahin plätschernden Smooth Jazz. Aadnekvam erweist sich als beeindruckendes Talent, der zudem über allen stilistischen Begrifflichkeiten steht.
Azymuth – „Outubro“
Far Out Recordings / Re-Release
Brasilien / Samba-Jazz
„Outubro“, das einst auf Milestone Records veröffentlichte Album der brasilianischen Samba-Fusionjazzer Azymuth ist eine längst fällige Wiederveröffentlichung aus der goldenen Zeit der 70er / frühen 80er Jahre, als brasilianische Musik im Fusion Jazz so richtig aufblühte. Es war die Zeit als Airto Moreira, Flora Purim, Raul de Souza, Chick Coreas „Return To Forever“ u. a. auf dem Höhepunkt ihrer Karriere standen. Auch Azymuth hatte 1979 mit dem Disco / Fusion-Stück „Jazz Carnival“ in England einen Top 20-Hit. Ein Jahr später folgte „Outubro“ mit glitzernden Fender Rhodes-Klängen, treibenden Samba- oder Disco-Rhythmen, Slap-Bass-Einlagen, Vocoder-Gesang sowie relaxten wie auch treibenden Jazzimprovisationen, mystischen Perkussionsklängen und sirrenden Synthesizersounds. Jazz war, auch dank brasilianischer Musiker, wieder tanzbar geworden. „Dear Limmertz“ von diesem Album war sogar ein Hit in der Londoner Jazzdance-Szene. Vieles klingt teilweise sogar aufregender als vergleichsweise heutige Produktionen in diesem Stil. Mit diesem Klangkosmos schaffte Azymuth auch die Grundlage für die Klangphilosophie des Far Out-Labels.
Inzwischen ist Azymuth wieder im Studio. Der 2012 verstorbene Keyboarder José Roberto Bertrami wurde von Kiko Continentino ersetzt. Im Oktober 2016 dürfte das neue Album erscheinen und die Band auf Tour gehen.