Nicht alles war negativ im Corona-Jahr 2020 – es gab einige musikalische Highlights aus Lateinamerika, die wir uns in diesem Jahresrückblick in Erinnerung rufen.
Die passende Radioshow von DJ Hans findet ihr auf Mixcloud oder direkt hier:
Was ein Jahr! Die Corona-Krise beherrschte alles, natürlich auch die Latin-Music-Szene. Teilweise sank der Input an neuen Alben derart, dass man fürchten musste, ein Stillstand würde eintreten. Natürlich stimmt das nicht ganz, denn in dieser Kolumne werden weitgehend solche Alben besprochen, die in Deutschland promotet und zur Rezension zugesendet werden. Allerdings verlagern sich Veröffentlichungen, besonders von größeren Stars, zunehmend in den Streaming-Bereich. Das heißt letztlich, mit CD-Veröffentlichungen wird kein großes Geld mehr verdient, also gibt man dazu immer weniger für Werbung aus. Der Social Media-Einsatz der MusikerInnen und die Konzerte werden in der Verbreitung von Musik immer wichtiger. Die klassische Musikkritik verliert dabei auch an Bedeutung für die Konsumenten. Hierbei muss aber zwischen verschiedenen Ebenen an Kommerzialität, Erfolg und Marktrelevanz der MusikerInnen unterschieden werden. Je spezieller eine Musik ist, desto eher geht sie die traditionellen Wege in der Vermarktung.
Doch die Coronakrise trifft alle. Was mit den finanziellen Verlusten und Versäumnissen der Musikindustrie vor rund zwanzig Jahren bezüglich der Digitalisierung von Musik im Netz als Krise begann, kann jetzt mit Corona zum Desaster werden. Die Streaming-Tantiemen zudem sind im Grunde nur lächerlich zu nennen. Man verdient heute als Musiker primär durch Liveauftritte und die fielen dieses Jahr in nie gekanntem Maße aus. Was hängen da nicht für Berufe dran, Musiker sowieso, Techniker, Clubs, Agenturen, Promoter, Vertriebe, Zeitschriften und und und… Zukunft ungewiss.
Das zarte Pflänzchen lateinamerikanische Musik auf deutschen Bühnen zu erleben, wird in Zukunft deshalb möglicherweise noch weniger stattfinden. Die qualitative Ausbeute ist dieses Jahr gefühlt dünner geworden, die quantitative sowieso, was sich auch an zunehmenden Wiederveröffentlichungen ablesen lässt. Dass ich ausgerechnet 2020 mit einer Sendung zu den Latin Music News angefangen habe (Der Latin Music Club auf https://www.mixcloud.com/lost-in-latin-music/), ist zwar schon lange geplant gewesen, trägt aber hoffentlich dazu bei, dass die lateinamerikanische Musik eine zusätzliche Möglichkeit bekommt, sich bekannter zu machen, was sie in diesen Zeiten auch dringend braucht. Musik hören ist eben noch eine ganz andere Nummer als nur über sie zu lesen. So wird es auch zum Jahresrückblick auf Mixcloud eine Sendung geben.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Coronavirus und der Politik dazu hat es in der lateinamerikanischen Musikszene garantiert gegeben. Sie findet sich bis jetzt jedoch nicht in den hier ankommenden Veröffentlichungen wieder. Das liegt einerseits am Markteinbruch, der in Lateinamerika besonders tragisch sein dürfte, und zweitens will ein Musiker primär erst einmal seine Vision von Musik weiter realisieren und drittens ist dies vom Musikstil abhängig. Wenn der Musikmarkt wieder mehr in Bewegung kommt, wird man vielleicht manch aufregende Songs zu den Ereignissen um die Coronapandemie hören können.
Ansonsten gibt es keine besonders auffallenden stilistischen Entwicklungen, die es wert sind, erwähnt zu werden, außer dass die Mehrheit der mir interessant erschienenen Alben eine ruhige Gangart anlegt. Schauen wir also auf die Ernte des Besten dieses denkwürdigen Jahres.
Sergio Mendes
„In The Key Of Joy“
Concord, Universal
Brasilien, USA / MPB
„In The Key Of Joy“ – In der Tonart der Freude. Ja, da konnte man sich noch freuen, als dieses Album erschien. Zumindest der Jubilar freute sich bestimmt, nämlich Sergio Mendes, der hiermit 60 Jahre auf der Bühne feierte. Der wohl kommerziell erfolgreichste brasilianische Musiker aller Zeiten suchte immer die Verbindung von brasilianischer mit amerikanischer Musik, insbesondere modernen Stilrichtungen. Seine Mischung zwischen Tanzmucke und Balladen sowie die Einbindung angesagter Stars aus ganz Amerika haben ihn fast immer auf der Erfolgswelle schwimmen lassen. Vor allem, wenn man von brasilianischer Musik hohe Energie und Tanzbarkeit erwartet, dann ist man bei ihm zumeist richtig. Einige Titel des Albums zeigen in dieser Hinsicht, dass man ihn noch lange nicht abschreiben sollte. Neben jungen Talenten greift er auch immer auf gediente brasilianische Altstars zurück wie Hermeto Pascoal, der auf „This Is It (É Isso)“ auf seine eigene kratzige Art dazwischen rappt.
Che Appalache
„Rearrange My Heart“
Free Dirt Records, Galileo
USA / Latin-Bluegrass-Crossover
Wenn es eine aktuelle Tendenz gibt, dann Latin Music als Crossover mit anderen Musikstilen. Das ist oft wie eine Frischzellenkur. Musterbeispiel dafür ist diese Fusion aus Latin und Bluegrass Music und Americana der Gruppe Che Appalache. Mit dem Instrumentarium des Bluegrass werden hier eine, dem Tango ähnliche uruguayische Murga, spanische Sephardenmusik oder Flamencoanleihen eingebracht. Die Musiker kommen aus den USA, Argentinien und Mexiko, gesungen wird Spanisch und Englisch. Birgt Überraschungen.
Kiko Dinucci
„Rastilho“
Mais um
Brasilien / Gitarrenmusik
Der aus São Paulo stammende akustische Gitarrist Kiko Dinucci spielte in der dortigen Punkrock-/ Hardcore-Szene der 90er Jahre. In dieser Zeit entdeckte er aber ebenso die Samba-Szene und die Rituale des Candomblés. Insofern wirkt auch beides bei ihm. Gleichzeitig kann man ihn nicht so ohne weiteres in die Liste brasilianischer Wundergitarristen einreihen. Man merkt einerseits, dass ihm Baden Powells Afro-Sambas und João Boscos perkussiver Gitarrenstil geläufig sind, Dinucci wirkt aber aggressiver, einfacher und weniger auf Virtuosität angelegt. Seine Stücke haben etwas Hypnotisches, sein Gesang ist roher, dazu gesellt sich oft ein beschwörender Chor. Fast ein Akustik-Punk sozusagen.
Tiganá Santana
„Vida-Código“
Ajabu Records, Broken Silence
Brasilien / Singer-Songwriter
Tiganá Santana hat sich in kurzer Zeit in Brasilien mit seinem Ambient-Folk zu einem Meister einer neuen Sanftheit entwickelt. Gleichzeitig steht er für eine Besinnung auf die afrikanischen Wurzeln Brasiliens, vom Einsatz afrikanischer Sprache wie vom Instrumentarium und der Rhythmik her. Auf seinem neuen Album pflegt er teilweise einen Ambient-Klang mit E-Piano-Clustern und intimem, fast flüsterndem Gesang. Damit erinnert er durchaus an Milton Nascimento. Interessant ist seine Version des Klassikers „Ilê Aiyê“.
Loli Molina
„Lo Azul Sobre Mi“
Flowfish Records, Broken Silence
Mexiko / Singer-Songwriter
Ebenfalls sehr feinsinnig klingt Loli Molina, gebürtige Argentinierin, heute in Mexiko City lebend. Sie betört mit besinnlichen Songs, die auch mal Klangpausen zulassen und durchweg recht minimalistisch instrumentiert sind: Spanische Gitarre, ein Streichquartett, E-Gitarre und Gesang. Songs wie hingehaucht.
Manfredo Fest
„Brazilian Dorian Dream“
Far Out Recordings
Brasilien / Brazilian Jazz
Die interessanteste Wiederveröffentlichung, die aber wie eine Neuentdeckung wirkt. Der brasilianische Keyboarder Manfredo Fest, von Geburt an übrigens blind, gehörte zu den Fusion-orientierten Musikern der Siebziger Jahre, die es in die USA zog, weshalb seine Musik dem Sound von Deodato nicht ganz unähnlich ist. Die besondere Note erhält seine Musik allerdings durch die durchgängig zu Fests Improvisationen synchron mit textlosem Gesang mitsingende Roberta Davis. Abgesehen vom brasilianischen Touch erinnert das sehr an den Stil der norwegischen Band Ruphus, die etwa im gleichen Zeitraum erfolgreich war.
Meretrio
„Choros“
Vertrieb D: Sessionworks Records; A: LOTUS Rec; CH: Harmonia Mundi
Brasilien / Choro-Jazz
Hier wird der ursprünglich oft quirlig wirkende Choro von brasilianischen Meretrio in einen vom Cool Jazz kommenden sanften Sound gespielt. Kontraste haben ja immer etwas Spannendes. Emiliano Sampaio spielt die E-Gitarre bewusst gedämpft, dazu gesellen sich Luis Oliveira (Schlagzeug) und Gustavo Boni (E-Bass) mit inspirierten Soli. Gutes Konzept: Es klingt einfach anders, wenn man Choro „cool“ spielt und Jazz auf Choro-Stücken aufbaut.
Carlinhos Brown, Paxuá e Paramim, Milla Franco
„Carlinhos Brown Kids e Paxuá e Paramim, Vol. 2 (A Floresta Dos Rios Voadores)“
Candyall Music
Brasilien / Kindermusik, MPB
Gleich vier Alben hat in diesem von Corona belasteten Jahr Carlinhos Brown veröffentlicht. Der brasilianische Superstar hat einfach sein Ding gemacht. Am überraschendsten geriet ihm dieses ökologisch orientierte Kinderalbum zu einer Animationsserie um zwei Indio-Kinder. Der große Vorteil dieses Albums ist, dass es nicht primär nach Kinderalbum klingt, aber dennoch Kindern wie Erwachsenen gefallen dürfte. Vor allem verleugnet sich Brown hier nicht in seiner Art. Die Produktion Browns ist makellos: Pausen an den richtigen Stellen, angenehmer Hall, subtile Wassertropfgeräusche. Zudem ist ein effektvoller Brega Funk wie „Quem Disse“ mit einprägsamer Melodie dabei. Großen Anteil am Album hat aber die Sängerin Milla Franca. In „Ainda Há“ legt sie eine gefühlvolle Ballade hin, die mit zum Besten zählt, was man aus Brasilien seit langem gehört hat. Mit „Jururú Tá Feliz“ ist auch ein perfekter, melodiöser Samba dabei, bei dem Brown und Franca im Duett singen. Ein engagiertes Album, das Maßstäbe setzt.
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