Das deutsche Lateinamerika-Magazin

 
 
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Latin Music News – Jubiläumsausgabe #50

Chico César – „Vestido De Amor“

Täterää!!! Jetzt ist es tatsächlich geschafft, die 50. Ausgabe der Latin Music News.

Die passende Radioshow von DJ Hans findet ihr auf Mixcloud oder direkt hier:

Hier gibt es regelmäßig Nachrichten über in Deutschland veröffentlichte Neuerscheinungen der lateinamerikanischen Musik jeglicher Art und manches mehr. Worüber hier berichtet wird, ist vor allem einigermaßen leicht zu beziehen. Man muss also nicht der Hyper-Mega-Latin-Crack sein, der das Leben völlig dieser musikalischen Ecke widmet. Es ist ja heute auch eher das Problem, von dieser Musik zu erfahren und genügend Information über sie zu bekommen, um sich im Dschungel des Genres orientieren zu können. Oft sind es ja Zufallskontakte, indem man eine bestimmte Musik hört und sie einem auch gefällt. Diese sind, was die Radiolandschaft betrifft, bei lateinamerikanischer Musik radikal selten geworden. Ignoranz bestimmt bezüglich dieses Genres die meisten Radiosender, selbst in der Fachpresse ist Latin Music ein Nebenprodukt. Es führt ein Nischen- und Spezialisten-Dasein, mehr als je zuvor. Wenn man Geschmack an lateinamerikanischer Musik gefunden hat, muss man sich stark selbst darum kümmern und dabei helfen die Latin Music News und die Radioshow Latin Music Club wie auch viele Spartensender im Web.

Eigentlich ist Latin Music ja sehr präsent, weil man im amerikanischen Bereich etwas Anderes darunter versteht. R’n’B- oder am Hip-Hop orientierte Popmusik mit Künstlern wie Pitbull oder Latin Popper wie Ricky Martin füllen diesen Begriff aus und sind höchst erfolgreich damit. Hierzulande wird diese Richtung nur zum Teil als lateinamerikanisch wahrgenommen, weil da auch viel englisch gesungen wird. Aber eben auch spanisch und es ist gar nicht so lange her, dass es bei den Grammy Award Shows als unerwünscht galt, spanisch zu singen.

Außerdem haben viele, wenn nicht sogar die meisten Sommerhits einen lateinamerikanischen Hintergrund, der eher indirekt wahrgenommen wird. Bachata- und Merengue-Discos tragen zudem zu einem sehr verbreiteten, aber begrenzten Verständnis lateinamerikanischer Musikkultur bei. Latin Music ist Teil der Popkultur, während lateinamerikanische Musik, um die es in der Kolumne vornehmlich geht, vielfältiger ist, manchmal aber schon fast als E-Musik wahrgenommen wird. Die Latin Music News ziehen jedoch keine scharfe Trennungslinie, betonen die Vielfalt und wer hier promotet wird. Denn promotete Musiker kommen wenigstens manchmal zu uns und sind Botschafter ihrer Musik. Bleiben sie aus, halten sich bestehende Klischees über lateinamerikanische Musik umso mehr. Konsumenten, die an World Music interessiert sind, hören auch gerne lateinamerikanische Musik. Da diese (im Original) aber kaum noch auf unseren Bühnen zu genießen ist, wird z. B. Salsa oft mit dem Salsa-Tanz verwechselt und für rein kubanische Musik gehalten, obwohl sie eher aus New York kommt und in Kuba sogar einst verboten war.

In den 1960er und 1970er Jahren war lateinamerikanische Musik zudem wesentlich präsenter im deutschen Fernsehen. Internationale Musik, wenn sie nicht mainstream-kompatibel ist, wird in den TV-Giftschrank von ARTE verschoben und bei Interesse schaue man sie eben auf YouTube an. Da hatten einst deutsche Schlagerkönige wie Caterina Valente und Freddy Quinn mehr Herz für Latino-Musiker in ihren Fernsehshows.

Diese Kolumne startete 2014. Wenn sich seitdem etwas geändert hat, dann, dass lateinamerikanische Musik aus dem Fokus verschwindet. Die Zeiten, als große Stars aus Lateinamerika in Deutschland touren, sind vorbei. Das hat einmal damit zu tun, dass diese älter geworden sind und höchstens noch auf großen Jazzfestivals auftauchen, wie dass es sich finanziell für sie kaum mehr lohnen dürfte. Letzteres gilt aber auch für die jüngere Generation an MusikerInnen. Auffällig ist zumindest, dass experimentellere MusikerInnen, einfach produzierende Singer/Songwriter und Wiederveröffentlichungen fast vergessener Alben eher den Weg in die deutsche Promotion finden, weil dies den europäischen Geschmack findet. Auch deutsche Produktionen mit lateinamerikanischer Musik haben zugenommen. Ist die originale Musik also auf dem Rückzug? Man wird sie nur mehr auf den Streamingdiensten finden, was zur Folge hat, dass man selbst noch engagierter sein muss, um Zugang zu ihr zu entwickeln. Zufallsbegegnungen mit lateinamerikanischer Musik scheint es weniger als je zuvor zu geben. Eigentlich ist dies eine Armutserklärung, konnte man doch die Erwartung hegen, in einer zunehmend globalisierten Welt genau das Gegenteil zu bekommen: einen Überfluss an Informationen. Die Standardisierung von Musikformaten und die Überforderung im Informationsangebot des Webs scheinen aber den Zugang zu dieser Musik eher abzubauen, während gleichzeitig der musikalische Input nachlässt. Dementsprechend wird es auch immer schwieriger, interessante Sendungen mit Latin Music zu erstellen.

Was folgt daraus? Die Latin Music News wird es zwar weiterhin geben, vielleicht in größeren Abständen, die Sendung Latin Music Club wird in Zukunft Teil einer genremäßig offeneren Sendung werden, die „Musical Explorer“ heißen wird. Mehr dazu nach ihrem Start im Laufe des Jahres.

Ein Dank geht nach 50 Ausgaben aber jetzt an die interessierte Leserschaft. Ich hoffe, man wird der Kolumne weiterhin treu bleiben und viele Entdeckung machen können, die ohne sie nicht möglich gewesen wären.
In diesem Sinne: a uno nuevo/ para um novo.

Chico César – „Vestido De Amor“

Chico César – „Vestido De Amor“Zamora Label, Good to go
Brasilien / MPB

Inzwischen muss man es wie gesagt schon als „erstaunlich“ bezeichnen, wenn ein großer brasilianischer Musikstar in Deutschland promotet wird. Aus Brasilien kamen zuletzt bei großen Namen meist nur noch Reissues. „Vestido De Amor“ – In Liebe gekleidet – nennt der Brasilianer Chico César sein Album als Antwort auf die in Hass gekleidete Politik des Bolsonaro-Systems. Entsprechend beschreibt er im Song „Bolsominions“ die evangelikalen Bolsonaro-Fans mit ihrem Hass gegen Arme, Schwarze, Indigene und Homosexuelle als „Dämonen, die aus der Hölle kommen“. Deutliche Worte, die ihm gewiss erneut Shitstorms und Morddrohungen einbringen werden. (Zur Erinnerung: „Minions“ sind Figuren aus Animationsfilmen mit dem Ziel, den schrecklichsten Schurken der Geschichte zu dienen. Passt doch!) Außerdem besticht dieser durchaus fröhliche Reggaesong mit einem irren Solo auf der Kora (von Sekou Kouyaté), womit wir beim zweiten Aspekt des Albums sind.

In Brasilien gibt es manchmal die Auffassung, die eigene Musik sei derart afrikanisch geprägt, dass es sich erübrige, mit afrikanischen Musikern zusammenzuspielen. Das macht César genau anders. Er lud Sänger Salif Keita und den Pianisten Ray Lema als Gäste ein und deren Beiträge sowie das Koraspiel färben die Musik auf eine Weise afrikanisch ein, die man in Brasilien kaum hört. Ansonsten glänzt das Album durch Abwechslungsreichtum von Synthiepop über Balladen zu Forró, Axé oder Reggae, immer mit afrikanischen Klängen verbunden.

Tiken Jah Fakoly – „Braquage De Pouvoir“

Tiken Jah Fakoly – „Braquage De Pouvoir“Chapter Two Records, Wagram Music
Reggae / Frankreich, Elfenbeinküste

Während der Lateinamerikaner Chico César afrikanische Klänge einbezieht, widmet sich der Afrikaner Tiken Jah Fakoly voll und ganz dem lateinamerikanischen Genre des Reggaes, und das seit drei Jahrzehnten. Fakolys Reggae ist straighter Roots Reggae ohne große Schnörkel. Das leichte Autotuning beim Gesang ist dabei der einzige, dennoch sehr verzichtbare Schnörkel. Mit César vereint Fakoly neben dem Einsatz der Kora, ebenfalls in Paris produziert zu haben. Gesungen wird auf Englisch und Französisch. Inhaltlich geht es um die obligatorische Anprangerung der Spätfolgen des Kolonialismus der Franzosen, was niemand allerdings daran hindern dürfte, ausgiebig dazu zu tanzen. Auch Fakoly bemüht sich um Abwechslung. „Cava Aller“ wirkt wie ein in Reggae verwandeltes Griotlied, „Farana“ zeigt Momente des Ska und der gelungenste Titel „Don’t Worry“ ist ein Calypso, bei dem Amadou & Mariam mitsingen. Man sollte in Sachen Reggae eben öfters mal nach Afrika schauen.

Horace Andy – „Midnight Scorchers“

Horace Andy – „Midnight Scorchers“On-U Sound (Rough Trade)
England/ Reggae, Dub

Und noch mal Reggae. Nanu, könnte man meinen, Englands Reggaestar Horace Andy hat doch erst vor kurzem das Album „Midnight Rocker“ herausgebracht. Und jetzt gleich zwei Alben hintereinander, nachdem die Abstände seiner Veröffentlichungen in den letzten Jahren eher größer wurden? Nun, „Midnight Scorchers“ ist eine Art Fortsetzung des erfolgreichen „Midnight Rocker“-Albums. Während Letzteres am Reggae orientiert ist, handelt es sich bei „Midnight Scorchers“ um eine Soundsystem- und Dub-Version der Original-Sessions, erstellt von Adrian Sherwood. Der Derwisch am Mischpult, betreibt bekanntlich auch das On U Sound-Label. Durch ihn ist ein eigenständiges, anders klingendes Album entstanden, bei dem man „Midnight Rocker“ schon sehr gut im Ohr haben muss, um Tracks davon wiederzuerkennen. „Midnight Scorchers“ beinhaltet abgespeckte Instrumentalversionen im Deep-Dub-Reggae-Stil, Dancehall-Reworks mit Gast-Toastern wie Daddy Freddy und Lone Ranger sowie neue Titel. Im Effekt bedeutet dies z. B. bei „Feverish“, dass die Tonspuren dekonstruiert, neu konstruiert, mal auf den Grundbeat abgespeckt und dann plötzlich wieder mit etwas Ska-Sound aufgefüllt wurden. Dazu gibt es die üblichen Dub-Effekte und es passiert fast jede Sekunde etwas anderes. Das Stück ist eine neue Version eines Horace Andy- Klassikers aus seiner Studio-One-Ära in Jamaica. Bei „Dub Guidance“ ist die frühere Falsettstimme Andys zu hören im Wechsel mit einer sphärischen Mundharmonika, einer kratzigen Posaune, digitalen Rhythmen und Toasts einer der MCs. Typische Piepser und Halleffekte aus dem On U Sound-Repertoire gibt es zuhauf, Bass und Congas bilden die Basis. Alles in allem ist das mal wieder die psychedelische Soße, in der alle Zutaten einer On U Sound-Produktion vorhanden sind.

Trotzdem hat man das Gefühl, eine spürbare Neuerung im Mixing ist nicht festzustellen, da tobt sich Sherwood eher in Produktionen für stilistisch anders orientierte Musiker aus. Offensichtlich hat die Abmischkunst Sherwoods schon lange einen Höhepunkt erreicht, der schwer zu toppen ist. Was Horace Andy betrifft, dürfte er jetzt nicht mehr nur auf seine Arbeit als Gastsänger für die Trip-Hop-Band Massive Attack und seine jamaikanischen Hits der 1970er Jahre reduziert werden.

Mata Atlântica – „Retiro e Ritmo“

Mata Atlântica – „Retiro e Ritmo“Unsung Records, Galileo
Brasilien, Deutschland / Jazz, Weltmusik, Ambient

Es ist schon interessant, wie manche musikalischen Meilensteine noch Jahrzehnte nachwirken, sei es bewusst oder unbewusst mitschwingend. Insofern ist das vorliegende Album nicht allein etwas für Freunde des brasilianischen Regenwaldes, wie das Cover suggeriert, sondern auch für Hörer, die auf die Entwicklungen stehen, die einst Miles Davis‘ Album „In A Silent Way“, eines der Urwerke des Fusionjazz von 1969, ausgelöst hat. Aber auch Musik, die davon inspiriert wurde, klingt hier an: die Rhythmik des Zawinul Syndicate, die Elektronik-Jazz-Verbindung eines Jon Hassell sowie dessen brasilianischen Musikeskapaden oder auch Tony Scotts meditative Alben. „Retiro e Ritmo“ ist hypnotisch und groovt intensiv, kann in den besten Momenten an die Werke der genannten Jazzstars heranreichen, wenn auch manchmal der Mut zu dissonanten Klängen oder Wendungen der Dramaturgie durch Impulse wie bei Miles Davis fehlt. Gleichzeitig ist es ein Eintauchen in die Klangwelt des Urwalds und brasilianischer Stammesrhythmen. Filmmusik für den eigenen Kopf.

Die Formation Mata Atlântica des deutschen Produzenten und Soundscapers Mathias Derer benannte sich nach dem Küstenregenwald Brasiliens. Derer wurde von einem Aufenthalt dort zu dem Album inspiriert, als er einer Einladung des deutschen Naturfotografen Markus Mauthe folgte, um an der Gründungsphase der Umweltorganisation AMAP Brazil teilzunehmen. „Retiro e Ritmo“ basiert auf Feldaufnahmen aus dem Regenwald und bietet faszinierende Improvisationsmusik zwischen Jazz, Ambient und gelegentlichen R‘n’B-getönten Vocals mit Spoken Words. Akustische wie elektronische Rhythmik sind gleichberechtigt vorhanden, insgesamt waren 17 MusikerInnen beteiligt. Ein überraschendes Album von wenig bekannten Musikern. Große Empfehlung!

Joyce with Mauricio Maestro – „Natureza“

Joyce with Mauricio Maestro – „Natureza“Far Out Recordings
Brasilien / MPB

Stararrangeur Claus Ogerman produzierte 1977 für die damals noch junge brasilianische Sängerin Joyce dieses Album. Es hätte der Beginn einer Weltkarriere sein können, munkelt man, weil Ogerman schon Alben mit Tom Jobim und João Gilberto zu Klassikern machte. Auch die Besetzungsliste ist mit Nana Vasconcelos oder Michael Brecker vom Feinsten, aber Joyce‘ Album wurde nie veröffentlicht. Dazu gab es mehrere Gründe. Joyce wurde schwanger und konnte Brasilien für eine Endabmischung nicht verlassen. Ogerman wollte zudem alternative englische Texte für den US-amerikanischen und internationalen Markt aufnehmen und der damalige Brasilien-Hype war vorbei, bevor man wieder ins Gespräch kam. Das Stück „Feminina“ – ein Dialog zwischen Mutter und Tochter wurde dennoch bekannt und untermauerte Joyce‘ Ruf, als Erste in Brasilien weibliche Perspektiven in den Mittelpunkt der Texte gestellt zu haben.

Jetzt ist das Album nach 45 Jahren veröffentlicht worden. Man mag allerdings zweifeln, ob es je den anvisierten Effekt gehabt hätte. Es wirkt trotz der verdienstvollen Arrangements von Ogerman uneinheitlich und unfertig. Joyce‘ Kollege Mauricio Maestro hatte vier Titel komponiert und davon selbst zwei gesungen ohne große Beteiligung von Joyce. Da diese recht belanglos, ja sogar altbacken wirken, erweisen sie sich hier als Fremdkörper. Bei den meisten anderen Titeln, insbesondere aber auch „Feminina“, hätte man wesentlich früher ausblenden können. Es wird endlos improvisiert, ohne dass viel Neues passiert. Die durchaus lebendigen Titel wirken so irgendwann plattgewalzt. Vielleicht war es tatsächlich nicht ein unveröffentlichtes, sondern eher ein unfertiges Album.

Gerdo Sintrenza – „Babuchas De Seda Granate“

Gerdo Sintrenza – „Babuchas De Seda Granate“Frau Batz Records, Indigo
Hispano Pop

Was macht man, wenn man einen bekannten Namen hat und einmal ganz etwas anderes machen möchte? Man wechselt seinen Namen und singt, was einen eben auch noch so interessiert. So geschehen bei Gerd Knebel, den man gemeinhin als eine Hälfte des hessischen Comedy-Duos „Badesalz“ kennt. Knebel hat sich anscheinend so sehr in die spanische Sprache verliebt, dass er nicht anders konnte, als es selbst mit spanischem Pop und Rock zu versuchen. Und als Glatzkopf passt dann auch ein anderer Name besser: Gerdo Sintrenza – Der Gerd ohne Zopf. Herausgekommen ist eine Musik, die einerseits radiotauglich klingt, andererseits am besten wirkt, wenn Señor Gerdo auf sanft macht. Das passt am ehesten zu seiner Stimme. Wer Alex Cuba kennt, weiß ungefähr die Richtung. Dass hier kein Muttersprachler singt, spielt heutzutage keine Rolle mehr. Das Augenzwinkern hat Gerdo wohl auch nicht verlernt, wie der Titelsong vermittelt, in dem eine Dame lieber kastanienbraune Pantoffel als ein Luxusauto geschenkt bekommen möchte. Ei so was awwer aach!

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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