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Latin Music News (#34) zu Zeiten von Corona

Tiganá Santana – „Vida-Código“

Es fällt schwer, in einer Zeit, in der Menschen massenhaft am Corona-Virus sterben, über lateinamerikanische Musik zu schreiben, die ja vielen als Ausdruck der Lebensfreude gilt. Inzwischen ist vielmehr „Schluss mit lustig“ angesagt und Musik wird fast zur Nebensache. Für viele Menschen ist Musik allerdings keine Nebensache. Sie leben davon, ob in Lateinamerika oder auch hierzulande als Musiker, Veranstalter, Agentur, Journalist, Roadie, Promoter usw. und sie sind in ihrer Existenz gefährdet. Ich habe dieser Tage eine Mail aus meiner Region von einem durchaus bedeutenden Musikclub bekommen, der zum Crowdfunding aus existenziellen Gründen aufrief und sagte mir: Wenn dieser Club sich schon jetzt zu einem solchen Schritt genötigt fühlt, dann sieht es sehr bald düster aus und zwar für alle, die Kultur machen. Die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz retten Menschenleben und sind richtig, manchmal vielleicht sogar noch zu zaghaft gestartet worden. Sie haben nur den ungewollten und traurigen Nebeneffekt, dass sie wirtschaftlich die Kulturszene in eine Zeit zurückbeamen könnten, die fast an die Nachkriegszeit erinnert, wenngleich ich zugebe, dass der Vergleich etwas hinkt. Daher lassen wir es nicht so weit kommen. Man kann als Fan lateinamerikanischer Musik diejenigen unterstützen, die diese Musik machen, indem man sie erwirbt. Das ist kein Aufruf zum bloßen Konsumieren, eher einer zur Solidarität, bevor manche Musik, mancher Club usw. vielleicht ganz verstummt.

In Lateinamerika sind es ja oft die Musiker, die sich kritisch äußern. Eigentlich schon immer. Und diese kritischen Stimmen werden gerade jetzt gebraucht. Momentan geschehen in Brasilien um den Corona-Virus Absurditäten, die man bislang kaum für möglich gehalten hat. Ein offenbar wahnsinniger, verantwortungsloser und nur am Profit orientierter Präsident namens Jair Bolsonaro hält den Virus für „…eine ‚gripezinha‘ (kleine Grippe) oder ein ‚resfriadinho‘ (kleine Erkältung)“. Andere Regierungschefs wenden sich an Ihr Volk und bitten darum, Regeln zur Eindämmung des Virus einzuhalten. Bolsonaro dagegen beschimpft die Maßnahmen, die einzelne Bürgermeister oder Gouverneure erlassen haben. Dabei warnen Fachleute, dass die Pandemie in Ländern wie Brasilien besonders schwer wüten könnte. Das Gesundheitswesen ist dort mehr noch als bei uns kaputt gespart, die Favelas machen eine Isolierung unmöglich. Die indigene Bevölkerung ist schon bei einem normalen Schnupfen in Lebensgefahr. Mit einer solchen Einstellung wird Bolsonaro mit hoher Wahrscheinlichkeit und zu Recht als Präsident der Schande in die Geschichte Brasiliens eingehen und es gibt bereits Bestrebungen für ein Amtsenthebungsverfahren. Auch die Sambaschulen im Karneval von Rio hatten sich ja zum Glück nicht den Mund verbieten lassen und thematisierten den Virus und vieles mehr trotz oder gerade wegen gestrichener Zuschüsse durch den Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella, der aus der gleichen Sippe religiöser Fanatiker stammt wie Bolsonaro.

Deshalb ist es auch richtig, in diesen schweren Zeiten weiter über Musik zu schreiben, denn es ist ein zugegebenermaßen winziger Beitrag, dabei auch kritische Stimmen, die nötig sind und die vielleicht vom zeitlichen Effekt erst in einigen Wochen und Monaten verstärkt in den hier promoteten Veröffentlichungen zu bemerken sein dürften, zu vermitteln und über sie zu informieren. Ich erinnere in dem Zusammenhang an den brasilianischen Liedermacher Lucas Santtana, der sich zu seinem Album „O Céu É Velho Há Muito Tempo“ zuletzt sehr eindeutig gegen Bolsonaro und die Evangelikalen äußerte – siehe meine Rezension in Latin Music News #31.

Abgesehen davon, dass in diesen schweren Zeiten Musik auch mal eine Entlastung von einer emotionalen Belastung durch die logischerweise vorhandene informative Überdosis zum Corona-Virus bringen kann, sage ich diesmal: Bleibt gesund und haltet Abstand! Und wenn die Lebensfreude lateinamerikanischer Musik zurückkommen soll, dann versucht, ein bisschen Hoffnung zu gewinnen: „Always Look On The Bright Side Of Life“ sang doch da mal Monty Python.

Tiganá Santana – „Vida-Código“

Tiganá Santana – „Vida-Código“Ajabu Records, Broken Silence
Brasilien / Singer+Songwriter

Wenn man nun aber wirklich mal abschalten will vom Würgegriff des Corona-Stresses, dann kann man das mit Tiganá Santana sehr gut. Er hat sich in kurzer Zeit in Brasilien zu einem Meister einer neuen Sanftheit entwickelt. Gleichzeitig steht er für eine Besinnung auf die afrikanischen Wurzeln Brasiliens, vom Einsatz afrikanischer Sprache wie vom Instrumentarium und der Rhythmik her. Auf seinem neuen Album pflegt er teilweise einen Ambient-Klang mit E-Piano-Clustern und intimem, fast flüsterndem Gesang. Damit verführt er zum genauen Zuhören, zum Nachempfinden der Melodie, zum Genießen des Klangs der Instrumente, aber auch der besinnlichen Stille dieser Stücke. Dabei ist er zuvorderst Sänger und Texter, denn oft lässt er sich nur begleiten und spielt wenig selbst Gitarre. Gesanglich erinnert er etwas an Milton Nascimento. Bei Santana gibt es keine Anleihen am Bossa Nova, es ist eher eine unaufgeregte Besinnung auf ein ruhiges, intensives Spiel als sinnliche Musik. Aber es gibt auch rhythmische Songs und die wirken, als würde man eine Melodie summen und den Rhythmus dazu mit Händen klatschen oder auf den Tisch trommeln. Hier ist sozusagen noch weniger mehr. Interessant ist dadurch auch seine Version des Klassikers „Ilê Aiyê“. Tiganá Santanas radikale Ambient-Folk-Arrangements könnten in einigen Jahren als Pionierarbeit gewürdigt werden.

M.M. & Brazil Trio – „Brazil Guitar“

M.M. & Brazil Trio – „Brazil Guitar“Galileo Music
Deutschland / Brazil Jazz

M. M. steht für Martin Müller, deutscher Gitarrist mit einem Faible für brasilianische Musik und den Jazz. Müller und Brasilien passt zwar vom Namen her nur schwer zusammen, doch der Mann kennt sich aus. Sein Album ist in zwei Blöcke unterteilt mit jeweils sieben Titeln zusammen mit der Schlagzeugerin Bruna Cabral und dem Bassisten Christian Kussmann als Trio und der Rest mit Solo-Aufnahmen. Die Einspielungen mit dem Trio wirken vornehmlich als Jazz mit starkem Brazil-Touch. Dadurch klingen bekannte Stücke von u. a. Egberto Gismonti ungewohnt rhythmisch und swingend. Das entspricht nicht unbedingt dem Charakter von Gismontis Kompositionen, weil er deren dynamische Kontraste etwas zu sehr in Gefälligkeit auflöst. Dennoch ist dies die künstlerische Freiheit und man merkt, dass es Müllers Stärke ist, ins Tempo zu gehen. Trotz der nachvollziehbaren Verbeugungen vor den großen Meistern wie Baden Powell oder Tom Jobim wirken Müllers eigene Kompositionen mit diesem flinken Spiel am besten und seine Mitmusiker wissen gut darauf einzugehen. Bei den Solostücken gelingen Müller noch am ehesten sehr eigene Interpretationen, so mit einem perkussiven Mittelteil mit gedämpften Saiten in Jobims „Samba De Uma Nota So“. Brasilianische Gitarrenspielkunst ist schon immer eine Herausforderung. Müller und sein Trio können da durchaus mithalten.

Katiju – „Katiju“

Katiju – „Katiju“Eigenvertrieb (katiju.de)
Brasilianische und türkische Musik

Musik verbindet bekanntlich und überbrückt Distanzen. Die aus der Uckermark stammende akustische Gitarristin Julia Schüler und die deutsch-türkische Sängerin Evin Küçükali haben sich während ihres Studiums an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ in Dresden kennen gelernt. Ihr Repertoire besteht aus orientalischer und brasilianischer Musik. Das etwas überraschende Zusammenstellung und die kulturellen und geografischen Unterschiede hindert das Duo nicht, eine einheitlich klingende Musik zu produzieren. Dies erzeugt eine intime Stimmung und so lässt man diese auf sich wirken und hat nicht das Gefühl, dass zwei zu ferne Welten hier aufeinanderprallen. Sie verschmelzen vielmehr. Julia Schüler studierte Gitarre bei dem italienischen Gitarristen Carlo Domeniconi, dessen Kompositionen auch arabische und brasilianische Einflüsse haben. Hier liegen die Wurzeln der ungewöhnlichen Zusammenarbeit des Duos. Schüler waren beide Musikkulturen nicht fremd. Evin Küçükali, geboren in Bochum, studierte unter anderem Jazzgesang. Ihr Vater ist Kurde, die Mutter lasische Türkin, Anlass, sich mit der Musik ihrer Eltern zu beschäftigen und die Lieder mit sanften Improvisationen zu versehen. Das Duo spielt zudem viele Stücke des brasilianischen Gitarristen Baden Powell, dessen raffinierte und stimmungsvolle Afro-Sambas rhythmisch und spirituell zugleich sind. Katiju entlocken dessen Stücken eine helle Seite. Die orientalischen Lieder wirken wiederum besinnlicher, emotionaler. Hier kann sich Küçükali intensiv einbringen, man merkt ihre Identifikation damit. Höhepunkt ist „Dar Hejîrokê“: Schüler trommelt auf der Gitarre, Küçükali dazu mit etwas Mouth Percussion. Hier gehen jedenfalls zwei junge Musikerinnen Pfade, die wirklich noch nicht ausgetreten sind und spielen auf hohem Niveau.

Vinícius De Moraes – „The Poet Of The Bossa Nova“

Vinícius De Moraes – „The Poet Of The Bossa Nova“Aquarela Do Brasil, in-akustik
Brasilien / Bossa Nova

Vor einigen Jahren kamen die elementaren Originalaufnahmen von João Gilberto nach langem Streit von ihm mit der Plattenfirma wieder heraus, nun sollten Bossa Nova-Fans auch bei dieser Kompilation zuschlagen. Hier sind die wichtigsten Klassiker der Bossa Nova, bei denen Vinícius De Moraes die Texte schrieb bzw. auch komponierte, in frühen Versionen von Interpreten versammelt, die einerseits zum Who is Who der Bossa Nova gehören, andererseits sind diese Aufnahmen oftmals schwer zu bekommen. Und – die CD hat nur eine Auflage von 500 Stück. Zu den Interpreten gehören Legenden wie Agostinho De Santos, Carlos Lyra, João Gilberto, Baden Powell, Elizete Cardoso und Sylvia Telles. De Moraes, der selten Interpret seiner Stücke war, ist nur einmal zu hören und das gar nicht mal so schlecht. Auch De Moraes‘ musikalischer Hauptpartner Antonio Carlos Jobim fehlt hier überraschenderweise ganz mit Aufnahmen, auch wenn er ebenfalls nicht so oft wie andere seine Songs interpretierte. Natürlich gibt es von „A Felicidade“ Hunderte von Versionen und auch die Zusammenarbeit De Moraes‘ mit Baden Powell bei den Afro-Sambas ist elementar, aber hier geht es um die Frühzeit der Bossa Nova und die fing der Legende nach 1958 mit Elizete Cardosos Aufnahme von „Chega De Saudade“ mit João Gilberto an der Gitarre an. (Interessanterweise ist Cardosos Gesangsstil hier noch nicht so von der Coolness der Bossa Nova geprägt.) Mit anderen Worten, hier ist der Zeitraum 1958-1962 dokumentiert, wo Bossa Nova mit Gitarre und Stimme interpretiert wurde, selten mit orchestraler Begleitung und ohne die Vereinnahmung durch amerikanische Musiker.

Das Merkwürdige an der Kompilation ist allerdings, dass sie zwar De Moraes als Poeten der Bossa Nova im Titel würdigt, dann aber nirgends in den beiden Booklet-Texten auf seine besondere Songlyrik eingegangen wird. Daher sei mit einem Beispiel aus „Chega De Saudade“ einmal gezeigt, dass brasilianische Liedertexte, übrigens nicht nur bei De Moraes, schon immer das Niveau gehobener Dichtkunst hatten. In dem Stück heißt es z. B.:„

„Aber wenn sie zurückkehrt, wenn sie zurückkehrt,
Was für eine schöne Sache, was für eine verrückte Sache
Denn im Meer schwimmen weniger Fische
Als die Küsse, die ich ihr auf den Mund geben werde.“

Man muss sich bewusst sein, dass in etwa zur gleichen Zeit in Deutschland Schlager wie „Am Zuckerhut“ auf diesem Niveau getextet wurden:

„Die Flöten flöten Tirili
und wecken so viel Sympathie
als ob der erste Sambaschritt
schon in die Ehe führt.“

Nun ja, ob man Bossa Nova und Schlager so knallhart vergleichen darf, mag jeder selbst entscheiden, aber beide Lieder prägten durchaus das Brasilienbild der Deutschen in den Nachkriegsjahrzehnten.

Rosa Morena Russa – „Caprixaba“

Rosa Morena Russa – „Caprixaba“DaCasa Records, Galileo
Deutschland / Braziljazz, MBP

Die aus der Ukraine stammende, aber in Deutschland lebende Sängerin ist in kurzer Zeit dafür bekannt geworden, sich der brasilianischen Musik anzunehmen und diese mit ihrer Lebenssituation zu verbinden: Sie singt in fünf Sprachen Eigenkompositionen mit brasilianischer Musik, darunter auch Deutsch und Russisch. Dazu zeigt sie eine große Affinität zum Jazz. Ewig kann man auf das Konzept Vielsprachigkeit und Brasilien natürlich nicht rumreiten und deshalb macht sie jetzt genau das Richtige: Sie wählt die Universalsprache des Gesangs in der Musik, die Vokalise, das Singen ohne Worte. Diese Technik hat in Brasiliens Populärmusik wie im Jazz natürlich auch eine große Tradition und somit ist das ein guter Schritt. Russa wendet diese Art bei schnellen Choro-Stücken wie auch bei Balladen an, dazwischen gibt es ebenfalls ein Lied in deutschem oder russischem Text und einmal flüstert und murmelt sie vor sich hin, bevor sie den Gesang einstimmt. Insofern bleibt es abwechslungsreich. Russas phonetische Experimente versetzen besonders die balladesken Stücke mit einer individuellen Note. So nimmt man Russa jetzt wesentlich musikalischer wahr als bisher, wo man sich von ihrer Vielsprachigkeit vielleicht zu sehr verblüffen ließ. Das war wohl auch die Absicht ihres neuen Konzepts und scheint gelungen.

Alejandro De Nardi Ensemble – „Cantares Del Tiempo“

Alejandro De Nardi Ensemble – „Cantares Del Tiempo“Eigenvertrieb (de.nardi@musicfactor.de)
Argentinien, Deutschland / Latin-Crossover

Alejandro De Nardi, Komponist, Texter, Sänger und Multiinstrumentalist aus Argentinien, lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Sein Ensemble besteht aus Musikern unterschiedlicher Nationalität von Deutschland, Argentinien bis Puerto Rico. Sehr versiert lässt er in seiner Musik Pop, Jazz und vor allem Latinstile wie Tango, Candome, Mambo, Bomba und Merengue anklingen. In manchen Stücken gelingen ihm wunderbare Übergänge zwischen Tango und kubanischen Rhythmen. Auch hat sich der Einsatz von Streichern und Chorgesang gelohnt und er prangert in seinen Texten die Tragik der politischen Situation in Argentinien an. Am gelungensten wirken die Stücke, in denen er einen straighten Rhythmus einsetzt und dadurch tanzbarer wird, z. B. das Instrumental „Depresión Dominguera“ oder das hypnotische „Tu Canción No Morirá“. Eine Musik, die zwischen Latinstilen changiert, ohne in eines der Genres aufzugehen. Insofern ein sehr eigener Weg.

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Hans-Jürgen Lenhart schreibt als regelmäßiger Gastautor für das deutsche Lateinamerika-Magazin Latin-Mag. Er ist Musikjournalist und seit über 20 Jahren Experte für Latin Music. In der Artikelserie Latin Music News berichtet er alle zwei Monate über Neuerscheinungen in der lateinamerikanischen Musikszene.

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